Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1897

36 Sie mußte ja, nach wie vor, Schafe melken, Butter bereiten, vor dem Herde stehen und im heißen Sommer beim Slattur (Heumachen) helfen und ein elendes, schmutziges Weib werden, gleich den Frauen auf den benachbarten Höfen. Und sie hatte geträumt, wie Jene zu werde», zu fühlen und zu reden, von denen diese Bücher erzählten. Wie hatte sie nach mehr Kenntnissen gedürstet! Sie wußte, daß es noch viel Herrliches, Unbekanntes, Unbegreifliches, Begehrenswerthes da hinten in der Welt gab, wo die Sonne so lockend niederstrahlte. Sie mußte hier in weltverlorener Einsamkeit zurückbleiben. Sommer und Winter würde sie in stumpfer Gleichgiltigkeit vorüber ziehen sehen, im Sommer die müden Augen an den starren Felsen und dem glitzernden Wellengeschaukel und im Winter, an den todten Eisgebilden, an dem Krystallflimmer des niederrieselndeu Schnee's wund sehen. Petur, dem sie nun folgen mußte, sie fand sich resigniert in der Vorstellung zurccht, würbe stumpfsinnig und einsilbig neben ihr hergehen, wie die Anderen es thaten, und die alten Sagen und Märchen der Insel, von diesem oder jenem Hausgenossen erzählt, das einzige lebendige Wort sein, das ihr Kunde von fremdem Leben gab. Als der Vater hinter sie trat und sie an der Schulter berührte, sagte sie leise, in starrer Fassung: „Nun will ich Petur's Weib werden!" * * * Wenige Wochen darauf ritten sie zur Kirche und dann folgte Helga dem Gatten in seinen großen Hof jenseits des tief in das Land einschneidenden Fjordes, der das väterliche Gehöft von der neuen Heimat trennte. y * * Monate zogen in's Land. Dem Sommer war der starre Winter gefolgt und Petur's plumpes Liebesgirren, das Helga leidvoll ertragen, dem stumpfen Gleich - nuth der Gewohnheit gewichen. O, wie war sie dankbar für diese Fügung des ewig Wandelbaren! sehemn da draußen, — aber auch zu den Treulosen, die mitleidigen Spottes der Scholle gedenken, die sie gebar. So denkt er wohl Deiner auch, Helga — wenn er sein Weib, das er an fremder Stätte erkor, in den Armen wiegt." „Woher kommt Euch diese Kunde?" fragte Helga mit unnatürlicher Ruhe, die gefalteten Hände auf die schwer arbeitende Brust pressend. „Von Arni, dem Genossen seiner Lern- begier, mit dem er gemeinsam in die Fremde zog," fiel Petur gelassen ein. „Er schrieb's an Sigurd, meinen Vetter, der auf der Schule ist, in Rajkjawik. Ich ließ mir das Papier geben. Ließ!" Da Helga das hingereichte Papier nicht nahm und schweigend vor sich hin- starrte, fuhr er fort: „Hier steht's ge- schriebeu: Bjarni aber steht am Ziel. Er hat sich mit Klir vermählt und nur für sie scheint er noch zu athmen. Rastlos strebt er nach Ruhm. Ich glaube, die Insel wird sich einst mit Stolz erinnern, daß sie ihn gebar." Helga hatte den Worten stumm gelauscht. Als Petur schwieg, verließ sie, mit tief herabgesunkenem Haupt, den Raum. Nach einer geraumen Weile folgte ihr Grunur. Helga stand in der Küche vor dem lustig flackernden Herdfeuer und starrte mit thränenleeren Augen auf die glimmenden Papiere nieder, die sie in die Flammen gelegt. Es waren Bjarni's Bücher, die er zurückgelassen. „Lerne, was darin steht," hatte er zum Abschied gesagt, „damit Du, wenn ich Dich hole, nicht unwissend, wie ein Kind, in die fremde Welt trittst." Sie hatte Alles gelesen und wieder gelesen, es zu verstehen gesucht und über Alles gegrübelt, was ihr unverständlich war. Nun war das Alles überflüssig. Nun mußte sie das Fremde wieder zu vergessen suchen, das ihr auf dem Wege, auf den das Schicksal sie erbarmungslos stieß, zur schweren Last werden konnte. 37 In der Kirchenbank lehnend, hatte sie die Augen wie von magnetischer Gewalt gezogen, von den flimmernden, tanzenden Buchstaben der aufgeschlagenen Bibel heben und vorwärts blicken müssen — und hatte da weit hinten ein dräuendes Augenpaar geschaut, das bohrend auf ihrem Antlitz ruhte. Mit halbem Ohr hörte sie den Priester dies und das sagen, auch von der Liebe und der Allerbarmung Gottes sprach er und dazwischen tönte der Gesang der Menge, die laute unangenehme Stimme des neben ihr sitzenden Gatten dröhnend an ihr Ohr. Da wurde ihr so weh und so übel, daß sie die Augen schließen und die Stirn, auf der große, kalte Tropfen perlten, vornüber gegen die Bank lehnen mußte. „Helga!" hörte sie Petur's Stimme mahnend, als der gräßliche Gesang endlich schwieg. „Ö, wie schlecht ist mir!" ächzte sie gequält. Ein überraschtes Lächeln zuckte über sein breites, ausdrucksloses Gesicht. „Wenn Du Dich übel fühlst, dann gehe an die Luft, Helga. Es wird draußen schnell vorübergehen," sagte er freundlich besorgt in warm aufquellender Theilnahme. Willig erhob sie sich, wankte, zwischen dem wieder einfallenden Gesang der Menge, zur Kirchenthür hinaus, und ließ sich am Kirchengemäuer auf einem Vorsprung nieder. Wie lange sie so in stumpfem, starrem Leid, mit tief herabgesunkeuem Haupt gesessen, sie wußte es nicht. War das noch Leben, was so leise in ihr vibrirte, wo sonst der Herzschlag so voll und klar arbeitete? Da hörte sie sich plötzlich angerufen snd aufblickend schaute sie in das Antlitz dessen, den sie nicht wiederzusehen gewünscht hatte und für den sie jetzt ihre Seligkeit hinzugeben bereit gewesen wäre. Mit inbrünstiger Liebesdemuth sah sie anklagend und verzweifelt zu ihm Jeden Sonntag ritten sie in die nahe Hauptstadt zur Kirche. „Dort reitet die schöne Helga, um die Bjarni geworben", raunten die Leute sich zu. Eines Tages, es war zu Ende des Winters, erreichte Helga's Ohr die wortkarge Kunde, Bjarni sei mit einem norwegischen Schiff auf der Insel erschienen. Mit qualerfülltem Herzen trug sie die Neuigkeit mit sich herum. Wenn das Gerücht nicht log, wozu war er dann noch einmal an diese Stätte gekommen? War er so schlecht da draußen geworden, daß er ihren Anblick ruhig ertragen zu können wähnte? Oder trieb ihn eitler Uebermuth, dem fremden Weib die verspottete Heimat zu zeigen? Voll Furcht und Zagen und von heimlichem Sehnen erfüllt, sah sie dem kommenden Sonntag entgegen. Sie fühlte es, ahnend, daß er etwas Unfaßliches in ihr Dasein bringen würde und das alte Leid hob wieder sein graues Haupt und starrte sie aus den müden, leeren Augen an. Der Sonntag kam. AthembeklemmendeAufregung schnürte Helga's junge Brust zusammen, als sie ™ Petur, auf deu schmalen von Rosseshufen getretenen Pfaden, zwischen hrmmelstürmenden Felsen oder über gefrorene Fjorde und Seen den Wea zur Kirche zurücklegte. Petur schwatzte von Diesem und Jenem. Auch der möglichen Begegnung mit dem ehemaligen Nebenbuhler that er Erwähnuug, Helga an ihre Pflicht gemahnend und ihr vor Augen führend, wie viel sie gewonnen an Reichthum und Ansehen- seitdem er sie zu seinem Weibe gemacht. ' Schweigend hörte sie hin,.aber heiß guoll es in ihr auf. Würde sie's ertragen, lhn zu sehen? Mit wonnigem Weh entlang sich ihrem Herzen die Ueberzeugung, daß sie ihn noch liebte, — liebe, trotz Allem, wie ehedem... . Dann war es geschehen, — so plötzlich, wie ein Sturmwind über sie hinbraust.

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