Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1896

2 Zur Lawinenzeit stockt der kleine Ver¬ kehr im Vorderpaznaun völlig, man zählt auf sechs Stunden an elf regelmäßige Lawinenstraßen; kein Wunder, wenn auch die Cariolpost in dieser gefahrvollen Zeit die Fahrten auf der „Schreckensstraße zwischen Pians und Ischgl einstellt, denn Steinschlag und Schneelahnen gefährden die theuern Pferde zu sehr. Sind aber doch Poststücke zu befördern, so muß eben ein Bote sehen, wie er ohne Schaden aus dem Bereich der Lawinen kommt. Das düstere Thal weist an vielen Stellen einen Reichthum an Marterln auf wie man einen solchen kaum anderswo trifft. Die wild daherbrausende milchige Trisanna fordert alljährlich ihre Opfer und landfeindlich sind die zahlreichen Berg¬ wasser, die in trockener Zeit kaum faden¬ dick herabrieseln, nach Gewitterregen aber zu Thal stürzen, Blöcke mitreißend und ganze Felder mit sich führend. Wehe dem vertrauensseligen Bauer, der sein Haus in Bachesnähe stellt. Auf vermuhrtem Boden und Geröll stehen dann oft die stummen Zeugen des Kampfes der Elemente, Bild¬ töcke zur Erinnerung, daß ein armes Menschenleben unterging, hier ertrunken, dort erschlagen von stürzenden Bäumen, da vom Steinschlag getödtet, anderswo von der heimtückischen Lahne erstickt und zugedeckt viele Monate lang, bis der Föhn und der warme Frühlingsregen die wuch¬ tigen Schneemassen lockert und von dannen treibt. Namentlich das Gehänge, auf desser ungemein steiler Höhe das Dörflein Lan¬ gesthey*) mit dem spitzen Kirchthurm steht, ist ein böser Lawinengang; eine mächtige Lawine riß im Jahre 1797 den weiter unten gelegenen Weiler Moosbach weg wobei elf Menschen das Leben verloren. Der Name dieses Dörfleins, von dem man agt, daß in Langesthey nicht einmal der Stubenboden wagerecht sei, deutet an, daß ich hier in früheren Zeiten eine Art Vor¬ 9Langes, Lanks gleich Frühling; They toje, toja vom romanischen teggia gleich Dach Hütte, Almhütte, vorarlbergisch deija gleich die Alphütte, Sennerei. alpe befand. Dann ist ferner anzuführen, daß das Thal im oberen Paznaun, mit Ausnahme von Ischgl, das eine bedeu¬ ende Handelsstätte für Saumzüge mit Salz, Eisen, Kupfer, Wein und Colonial¬ waaren zwischen Tirol, Graubünden und Veltlin war, einst eine große Alpe war, velche vom Engadin aus betrieben wurde Der Beschwerlichkeit des Ueberganges hal¬ ber, dürften sich die Senner und Hirten auf Tiroler Boden bleibend niedergelassen haben, blieben aber in Engadiner Seelsorge eingepfarrt, bis die Bevölkerung ihre eigene Curatie erhielt. Die alte kirchliche Verbin¬ dung mit Steinberg im Engadin hatte höchst beschwerliche Kirchgänge zur Folge und führte dazu, daß im Winter, wenn ein Ueberschreiten der Pässe unmöglich war, Leichen monatelang auf dem Dachboden oder in Scheunen aufbewahrt, wohl auch gar in den eisigen Schlafkammern beher¬ bergt wurden, bis sie nach dem Freiwerden der Uebergänge nach dem Kirchhofe ihrer Pfarrei gebracht werden konnten. Aehnlich erging es den Bewohnern des Dorfes See im Vorderpaznaun, die früher zu Serfans im Innthale eingepfarrt waren und zum Gottesdienst über das hohe Ser¬ fanser Joch pilgern und mit der Bestat¬ tung ihrer Todten auf den Frühling warten mußten. Der Name des ersten Dorfes See im Vorderpaznaun deutet an, daß dieser Thaltheil einst ein großes Gewässer gewesen ist, wie auch der Weiler Paznaun, von dem das ganze Thal seinen Namen hat, aus dem romanischen pozzignun stammend auf Pfütze deutet. Hinter dem Hauptorte Ischgl und dem noch weiter den Fernern zu gelegenen Dorfe Mathon (mato, rom. = Matte, Wiese) hebt sich das Thal auf eine erhöhte Stufe aus der Waldregion zum alpenhaften Boden, dessen Siedelung Galtür (rom. cultura) heißt, die erste Stätte der Enga¬ diner Hirten und Sennen. Im 17. Jahr¬ hundert hatte dieselbe durch den Krieg mit Engadin schwer zu leiden und wurde sammt der Kirche zerstört. Unweit dieser bereits sehr hoch gelegenen Ortschaft vereinigt sich mit dem Vermontbach, in welchen kurz

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