Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1896

66 Das gilt namentlich von dem Jahre 1894, das eine deutliche universal=historische Marke trug das nebst der Ermordung des Präsidenten Carnot, mit der unsere vorhergehende Chronik abschloß, den Ausbruch des Krieges zwischen den beiden ostasiatischen Kaiserreichen und den Tod des Czaren Alexander III. brachte. Und das blutige Drama von Lyon wurde um einen Act bereichert, dessen innerliches Verständniß dem geistigen Blick nur möglich ist, wenn er sich herabsenkt von der ragenden Zinne vergleichender Völkergeschichte. Kein Zufallspiel ist es und nicht begründet in persönlicher Eigenart der auf¬ tretenden Schauspieler der Welthistorie, wenn der Erkorene des Großcapitals, der verknöcherten Pseudo=Bourgeoisie, wenn Casimir Périer dem Vertrauensmann des kleinen Bürgerthums, dem schlichten Gerber und Lederhändler Felix Faure Platz machen muß. Welthistorische Ereignisse: Nach langer Krankheit schließt Alexander III., der autokratische Czar, in dem Palast von Livadia die Augen. Es ist der Beschützer Frankreichs, der gestorben ist, die mächtige Säule war eingestürzt, au deren Festigkeit die französische Republik ihre Hoffnungen gesetzt hatte. Alexander III. reprä¬ sentirte das russisch=französische Gegensystem welches mit seiner Front wider das Friedens¬ bollwerk der Tripel=Allianz gewendet war. Der Thronwechsel in Rußland hat nich jene Hoffnungen erfüllt, die man für die innere Politik des Czarenreiches, für die Ver¬ folgungen der nichtrussischen Nationalitäten und der nichtorthodoxen Confessionen hegte, aber nach außen hin ist die Möglichkeit einer engeren Verbindung zwischen den mitteleuropäischen Kaisermächten und Rußland weit näher gerückt als lange zuvor. Italien ist zum todten Glied innerhalb der Tripel=Allianz degenerirt. Häßliche Scan¬ dale, wildes Fractionsgezänke wechselten kalei¬ doskopartig auf dem Monte Citorio, wo das italienische Parlament versammelt war, bis es von Crispi nach Hause geschickt wurde. Crispi und Lina, seine schöne Frau, sind arg bemakelt; beruht auch nur der kleinste Theil jener Anschuldigungen, die gegen den Premier König Humbert's vorgebracht worden sind auf Wahrheit, so ist das geschichtliche Bild des bedeutenden Staatsmannes durch häßliche Flecken verunglimpft. Crispi besitzt aber vorder¬ hand noch das ungeschmälerte Vertrauen seines Monarchen. Er hat die Kammer aufgelöst, und die Art, in der italienische Wahlen gemacht werden, läßt es begreiflich erscheinen, daß die Mai=Wahlen des Jahres 1895 Herrn Crisp eine vielköpfige, willfährige Majorität be¬ scheerten. In England richtete sich das Haupt¬ interesse nach der weiten Ferne. Hinten im tillen Ocean erzielt die Cultur Europas einen der wunderbarsten Siege. Unter den Schlägen Japans stürzte das ungeheuere Reich der Mitte wie ein morscher Holzbau zusammen. Aber der Knabe Japan beginnt den europäischen Mächten gefährlich zu werden und die europäische Intervention in Ostasien dürfte sich nachhaltiger gestalten, als es dem schlitzäugigen Generale des Mikado recht sein dürfte. Zu den Staaten, die ihre außereuropäischen Interessen gar wohl im Auge behalten, gehört auch Deutschland, trotzdem der Vater der Colonialpolitik, Graf Caprivi, gestürzt ist und dem neuen Curse ein neuester gefolgt ist. Fürst Hohenlohe freilich ist ein bequemerer Minister als Bismarck, und deutlicher als je zeigt Deutschlands Reichspolitik das Gepräge der eigenartigen Individualität seines jungen Herr¬ schers. Die häßlichere Hälfte Hohenlohe's hieß Köller. Der neue Minister des Innern adop¬ Wechselbalg seines Vor¬ tirte den häßlichen gängers, genannt Umsturzvorlage. Aber an dem einhelligen Widerstand des deutschen Bürger¬ thums, der deutschen Bildung und deutschen Wissenschaft scheiterte jener freiheitsfeindliche Gesetzentwurf. In Oesterreich ist es der ungeschwächt fortdauernde Kampf um die Wahlreform, der dem öffentlichen Leben seine Signatur aufdrückt. Die Verbindung der gemäßigten Parteien dauert fort, hart bekämpft und angefochten von den Ultras aller Lager. Die Frage des slovenischen Gymnasiums in Cilli hat den Zusammenbruch der Coalition, die eit October 1893 bestand, und des Coalitions¬ ministeriums zur Folge gehabt. Am 11. Juni dieses Jahres verhandelte der Budgetausschuß über das Capitel „Mittelschulen“ des Unterrichts¬ budgets, welches die verhängnißvolle Post „Cilli“ in sich schloß. Der damalige Unterrichtsminister

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