Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1896

Der zerrissene Blumenstrauß. Novelle von R. A. Körnig. in blondlockiges, siebenjähriges „Du lügst und Du gibst mir sofort 1Mädchen sprang munter hinter die Blumen wieder. Ich will sie haben!“ 8 einigen bunten Schmetterlingen Riccardo rief: „Du kriegst sie nicht!“ her, die im Garten der Villa und begann dem Thore des Gartens zu¬ Washington gaukelten. Das schloßartige zulaufen. Landhaus lag eine halbe Stunde von dem Die zornige Kleine aber rannte ihm schönen Lugano in Tessin, am Abhange nach, was ihre Füßchen laufen konnten. einer der die Stadt umgebenden Höhen Da stolperte Riccardo über die Wurzel Weithin vermochte man von der Terrasse eines alten Feigenbaumes, schwer stürzt er der Villa zu schauen über den tief unten nieder und der Blumenstrauß entfliegt liegenden See, dessen azurblaue Fluth an einer Hand. das Mittelmeer erinnerte, fernhin über Blitzschnell hat Margot die Blumen gesegnete, in südlicher Ueppigkeit prangende vom Boden aufgerafft, den Strauß aus¬ Thäler und aufwärts zum schroffen Felsen¬ einandergerissen, auf die Erde geworfen grate des Monte Generoso. Das blonde und mit ihrem rothen Pantöffelchen die Kind aber hatte augenblicklich keine Zeit ganze blühende Herrlichkeit mitleidlos und nach allen diesen Herrlichkeiten zu schauen laut lachend zerstampft. Die kleine Margot war ganz mit Schmet Rasend vor Wuth, blutroth vor Zorn terlingsfangen beschäftigt. Als sie in Hast will Riccardo auf die Kleine sich stürzen um einen breiten blühenden Busch bog Margot aber weiß wohl, daß der arme rannte sie beinahe einen etwa zwölfjährigen Junge nicht wagen wird, sie, das Herren¬ Knaben über den Haufen, der von der kind, zu schlagen, sieht ihm keck in die anderen Seite kam. Der Junge war ärm¬ Augen und ruft schadenfroh: lich gekleidet und schwächlich gebaut und „Siehst Du's, Du kriegst sie doch aus dem blassen, mageren Gesicht schauten nicht!“ ein Paar große, schöne, schwarze Auger Riccardo ist mit geballten Fäusten heraus. Der Kleine trug einen größen einen Schritt zurückgetreten. Die großen Blumenstrauß in der Hand. Augen starren blutunterlaufen auf das Von dem Aprall der kleinen Margot schöne kleine Mädchen und mit zitternden bestürzt, wich der Knabe scheu zurück. Lippen schreit er ihr zu: „Warte, Du Margot sah die Blumen und herrschte ihn elendes Ding, warte, ich hasse Dich!“ in fremdartig klingendem Italienisch an „Wer bist Du, und wo hast Du die Dann wendet er sich und geht, aber Blumen her als er die zertretenen Blumen sieht, denkt „Ich bin der Riccardö vom Lehrer in er an das Grab der lieben Mama, das Massagno und die Blumen hat mir Deine morgen, am ersten Jahrestage ihres Hin¬ Gouvernante geschenkt.“ ganges, ohne die schönen Blumen sein „Du lügst, das ist nicht wahr, Du wird, die er erbettelt hatte. Ein krampf¬ hast sie aus meinem Garten gestohlen! haftes Schluchzen steigt ihm im Halse „Ich lüge nie und bin kein Dieb hinauf, heiße Thränen stürzen ihm aus Euer Fräulein hat sie mir geschenkt, denn den Augen und aufjammernd ruft er, die ich will sie auf das Grab zu meiner Mama Hände emporschlagend: „O, Mama, o, tragen!“ entgegnete der Knabe, dessen Auger arme Mama!“ und dann: „Wie hasse ich finster auf das blondlockige weiße Feenkind Dich, wie hasse ich Dich, warte Du, Elende blickten, das ihn so schwer beschimpft hatte da unten! 4

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