Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

39 88 war, sie so ruhig zu sehe», begann gleichwohl seine Situation als sehr unangenehm zu empfinden. Er vermochte das peinliche Gefühl, daß er dieser Frau alle Liebe und Treue, alles Gute, das sie ihm erwiesen, doch nur mit schnödem Undank lohne, nicht ganz zu unterdrücken. „Es wird ja dir und — und dem Kinde von nun an auch besser gehen, Lola. Du kannst dich auf die Truppe verlassen, die Einnahmen sind keine schlechten, und du wirst nie weit von hier wegziehen. Auch verspreche ich dir, daß ich Euch pünktlich von nieinem Verdienste senden verde. Gewiß, das verspreche ich feierlichst!" Das Anbieten des Geldes, einer Abfindungssumme sozusagen, brächte sie erst wieder zum Bewußtsein des ganzen Jammers ihrer Lage. Der Stolz bäumte sich auf in ihr gegen diese erniedrigende Zumuthung, und sie machte eine heftige abwehrende Geberde. Dann trat sie dicht an ihn heran. „Ich will dich nicht daran erinnern, Arthurio was du meinen Eltern verdankst; ich will nicht von der Sorgfalt, Geduld und Liebe erzählen, mit der sie sich des Findlings angenommen haben. Aber von mir muß ich reden, des Kindes willen, deines armen Kindes willen. Sieh mich an!" rief sie, das Schluchzen nur mühsam unterdrückend, während sie ihre beiden Arme auf seine Brust legte und ihn: den Kopf so wendete, daß er ihr in die thränenüberschwemmten Augen blicken mußte, „sieh mich an, Arthurio, und sage mir, ob ich dir einmal wissentlich Grund zur Klage gegeben. Sprich offen und wahr!" Er machte sich mit Gewalt los; er konnte diese Blicke nicht ertragen. „Du schweigst, du bist nicht im Stande, mir eine Schuld vorzuwerfen, und doch ; willst du von mir' gehen und von dem Kinde!.." Draußen erscholl lebhafter Applaus. Das „zweijährige Wunderkind Terp- sichore" hatte eben seine Tanzproduction beendigt und warf Kußhändchen nach der, durch die Unschuld und Grazie der Kleinen gerührten, klatschenden Menge, während Zephyra äußerte, etwas wie Mitleid erfaßt haben. Er trat zu ihr und streichelte ihr die kalten Wangen. „Ich kann mir ganz gut denken, warum der Director der „Singspielhalle" von dir nichts wissen will. Du würdest mit deinen Leistungen die armseligen, unfähigen Luftturnerinnen, deren Contract noch mehrere Monate Giltigkeit besitzt, vollständig verdunkeln. Das hieße doch, sich selber Con- currenz bereiten... * Er gebrauchte noch einige ähnliche nichtssagende Phrasen, aber während die lügenhaften Worte über seine Lippen flössen, dachte er der blendend schönen, jungen Weiber, die sich in dem Etablissement Pro- ducirten, das nun auch bald der Schauplatz seiner Thätigkeit sein sollte,- und verglich damit die zwar überaus kraftvolle, aber aller weiblichen Anmuth bare Gestalt und das in harten Zügen modellirte Antlitz seiner Geliebten Arme Miß Zephyra, unter dem fahrenden Gauklervolk, das seine Zigeunerzelte auf Bauplätzen und Kehrichtabladeplätzen vor den Thoren der Stadt aüfzuschlagen gewöhnt ist, magst du eine bemerkenswerthe Erscheinung und darum auch des Beifalls des dürftigen, anspruchslosen Publicums flehe, feu Aber das elegante Auditorium, bar allabendlich die prunkvollen, mit syba- ritischer Pracht ausgestatteten Productions- raume der „Singspielhalle" füllt, verlangt N03 seinen „Artisten" noch etwas mehr als verblüffende Kraf: oder Kunstfertigkeit, es fordert zuerst Eleganz Schönheit, Chic, Piranterie... Aehnliche Gedanken mochten auch durch den Sinn der Miß Zephyra wandern, Sie blickt' starr und wie traumverloren in die Kerzenflammc und hörte offenbar von den Schmeichelworten des Seiltänzers nicht das Geringste. „Verlassen, verlassen!" murmelte sie und wiederholte das Wort, als ob sie es nicht fassen, als ob sie sich über die Bedeutung desselben nicht klar werden könne. Der „Luftkaiser", der von dem leidenschaftlichen Weibe eine stürmische Gefühlsexplosion erwartet hatte und sehr zufrieden teigen; rasch komm', der Emanuel läßt sich bereits vom Reck herab, an uns ist die Reihe!" Er ließ sich nicht zum zweiten Male auffordern, diesen Raum zu verlassen, in dem es ihm schon unerträglich schwül und beklemmend vorgekommen war. Mit einem Satze sprang er die Stufen hinab und eilte auf das Podium; er wurde mit anhaltendem Händeklatschen empfangen und verneigte sich lächelnd nach allen Seiten. Er warf einen fragenden Blick zurück, ob seine Genossin noch nicht herauskomme. Endlich erschien Miß Zephyra auf der kleinen Bühne. Und auch um ihre Lippen spielte das gezierte Handwerkslächeln der Gaukler, und sie knixte und warf Kußhändchen nach rechts und nach links. Sie hatte sich ein wenig verspätet; was hatte sie denn noch zu besorgen gehabt, nachdem sie doch bereits vollständig costümirt war? Nur ein scharf geschliffenes, kleines Messer, das sie zur heutigen Production unbedingt benöthigte, hatte sie in den Gürtel stecken müssen, nichts weiter. Erst durch dieses Messer war ihre Toilette eine vollständige geworden. das Orchester, das an Dissonanzen das Unglaublichste leistete, einen lärmenden Tusch blies. Nach einer Weile öffnete sich die Thüre des Waggons und über die Treppe kam die kleine Künstlerin heraufgchüpft, roth und erregt von der Anstrengung und dem Beifall. Die Mutter hob die Kleine empor und küßte sie leidenschaftlich; dann hielt sie das Kind dem Vater entgegen, ohne ein Wort dabei zu sagen. Er streichelte leichthin des Kindes Wangen, aber von Rührung war nichts in seinem Gesichte wahrzunehmen. Miß Zephyra erkannte, daß auch dieser letzte Appell an sein Gemüth ein fruchtloser gewesen. Draußen erhob sich der Applaus, der schon ersterben zu wollen schien, auf einmal von Neuem zu großer Kraft. „Sie. rufen dich," sagte die Frau, „geh' hinaus, mein Herzchen, und tanze noch Etwas. Weißt du, den Fandango!" Und sie hob die Kleine wieder über die Treppe hinab. „Es ist thöricht, Lola," sagte der Seiltänzer zu ihr, als sie wieder zurückgekehrt war, „daß wir uns die Trennung auf solche Art erschweren." „Du bist also fest entschlossen?" „Ich würde eine sträfliche Thorheit begehen, wenn ich dem Glücke, das sich mir zum ersten Mal in den Weg gestellt, ausweichen wollte." „Du bist meiner überdrüssig, du liebst eine Andere." Er lachte auf. Aber er konnte damit nicht die Betroffenheit maskiren, die sich seiner bei diesen Worten bemächtigt hatte, und sein Lachen klang unnatürlich. Das entging ihr nicht. Sie blickte ihn eine Weile mit ihren schwarzen, funkelnden Augen, aus denen jetzt die letzte Spur des Thräneuschleiers verschwunden war, starr und lauernd an, und dann sagte sie mit gelassener, gedämpfter Stimme: „Ich sehe, daß ich mich darein finden muß. — Aber nun komm'! Wir wollen zum letzten Male mitsammen auf das Sei Der „Luftkaiser" kletterte mit mächtigen, Sätzen an dem Seile empor. Seine Gehilfin zog ihm die schwere Balancirstange empor, dann einen Tisch, eine Leiter, einen Sessel, ein Faß und noch einige andere Requisiten, mit denen er oben zuerst allein die tollkühnen, verwegenen Kunststücke ausführte. Als er mit denselben zu Ende war, schwang sich auch Miß Zephyra gewandt empor. Der „Luftkaiser" balancirte eben auf her Spitze der vielsprossigen Leiter, die er auf der Mitte des Seiles aufgestellt hatte. Als die Seiltänzerin oben anlaugte, schwieg die Musik plötzlich, um die Aufmerksamkeit und Spannung noch zu erhöhen. Erwartungsvoll und bewegungslos

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