Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

36 aus den Vororten eine um so kräftigere Wirkung äußerte. Es war dies eine von dem „Kaiser der Luft" und der „Miß Zephyra", der Directrice dieser armen Heimatslosen Zigeuner, auf dem Seile ausgeführte „Arbeit", die an halsbrecherischer Verwegenheit nichts zu wünschen übrig ließ. Ein Jeder, der sah, wie die beiden, ihr Leben für das kärgliche Brot tagtäglich in die Schanze schlagenden Menschen in der thurmhohen, schwindelnden Höhe da oben die grausigen Sprünge und sonstigen Kunststücke bei dem flackernden, störenden Lichte farbiger, bengalischer Flammen vollführten, ein Jeder, der das zum ersten Male sah, mußte alsbald, wie die Wiener sagen, eine „Ganshaut" bekommen, und das ist ja doch das Einzige, -was die große Masse von solchen tollkühnen Spielern erwartet und fordert. Und zum heutigen „Benefice" der verwegenen Miß Zephyra sollten die Gäste der Truppe, wie die Anschlagzettel ausdrücklich versprachen, mit ganz neuen, „hier noch nie gesehenen" Seiltänzerkünsten überrascht werden, Erklärung genug dafür, daß der weite Platz, in dessen Mitte sich das bereits erwähnte mobile Haus der Gesellschaft, eine mit zwei qualmenden Pechfackeln beleuchtete „Bühne" und das von den vielseitigen Künstlern sehr primitiv zusammengezimmerte „Parquet" befanden, sozusagen ausoerkauft war. Der umfriedete Rauin sogar, mit den numerirten Sitzen, von denen die vorzüglichsten nicht weniger als fünfzehn Kreuzer kosteten, war heute, in Anbetracht der zu erwartenden außergewöhnlichen Genüsse, ziemlich gut besetzt. Die Miß Zephyra, welche es nicht verschmähte, von Zeit zu Zeit zum Zwecke des Absammelns mit dem zahlreichen, im „Stehparterre" angesammelten Publicum in persönlichen Verkehr zu treten, war daher sehr aufgeräumt und guter Dinge. Die Einnahme war, was für ihre große Popularität das günstigsteZeugniß bedeutete, eine über alle Maßen hohe, und sie zeigte sich dermaßen befriedigt über die ansehnliche Menge der Kupfermünzen, die sich auf ihrem Teller anhäuften, daß sie heute sogar die vielen auf den Planken, Bäumen und Laternenpfählen kauernden Jungen, deren Geldlosigkeit ihrer Kunstbegeisterung die Waage hielt, vollständig ignorirte und dieselben von ihren mehr billigen als be- quemenObservationsPostennicht verscheuchte, wie sonst immer. Und der Clown, mit dem weiß und schwarz beschmierten Gesicht machte seine alten albernen Spässe, die, obwohl Jedem schon bekannt, doch die lärmendsten Lach- salven hervorriefen; der Monsieur Herkules brillirte im Schwingen und Stemmen unglaublich großer Gewichte — die aber, um diese Hantirung ein wenig bequemer zu machen, aus Holz und nur mit einem Metallmantel versehen waren — das zweijährige Wunderkind „Terpsichore" führte in seinem flitterbehangenen, mehr grauen als weißen Ballerinenkleidchen eine Reihe von Nationaltänzen vor, die man in keinem Lande der Welt kennt, und der Schwert- und Feuerfresser, verschluckte seine rostigen Degenklingen und brennenden Wergbündel mit einer Unermüdlichkeit, als gebe es in ganz Mitteleuropa und Nordamerika keine besseren, wohlschmeckenderen Leckerbissen. Das war Alles ganz ittteressant und für fünfzehn oder noch weniger Kreuzer auch im höchsten Grade preiswürdig, aber nicht mehr neu und durfte daher auch nicht mehr Anspruch auf eine mehr als achtungsvolle Aufnahme erheben. Die Begeisterung, den Kunstfanatismus, wollte man sich bis zum Schlüsse, bis zu der „noch nie dagewesenen" Production des famosen „Luftkaisers" und der kühnen Miß Zephyra aufsparen. In dem mit dumpfiger, widriger Luft erfüllten Waggon war der „Luftkaiser", dessen Majestät selbst so geringfügige Hantirung nicht verschmähte, eben damit beschäftigt, einige Schäden seines glitzernden Costümes mit Nadel und Zwirn auszu- bessern, als Miß Zephyra, die zum Schutze gegen die Nachtluft ein Tuch um die 37 Schultern geworfen hatte, in den von einer Unschlittkerze erhellten Raum trat. Sie war eben wieder von einem ihrer Rundgänge zurückgekehrt und leerte den Inhalt des mit Kupfergeld vollgefüllten Tellers in die Tischlade zu den übrigen Schätzen. Ihr Ohr schien mit Wonne dem Klimpern und Klingeln der fallenden Kreuzer zu lauschen. „Arthurio!" Der Mann wendete nur halb den Kopf, erwiderte jedoch kein Wort und fuhr dann in seiner häuslichen Verrichtung unbekümmert fort. „Freust du dich denn nicht unserer reichen Einnahme? Jetzt können wir Alles bezahlen." Ein unsäglich verächtliches Lächeln umzog die Mundwinkel des Mannes; ein Blick des Hohnes streifte die aufgestapelten Scheidemünzen, welche das Entzücken seiner Geliebten bildeten, die einzelne Münzen spielend durch die Finger rinnen ließ. . Er war mit seiner Näharbeit fertig und begann sich anzukleiden. „Du bist ein Kind, Lola, es reicht nicht einmal hin, den Hunger zu stillen. des Priesters, haben wir nicht eine gemeinsame Freude und eine gemeinsame Sorge: unser Kind?" „Rege dich nicht unnütz auf, Lola, und höre erst, um was es sich handelt. Du wirst finden, daß das, was ich vor- habe, nur zu unserem Besten und zum Glück des Kindes ist. . Der Director der „Singspielhalle" muß von mir gehört oder mich zufällig gesehen hab'en; er ließ mir durch seinen Agenten einen Engagementsantrag machen und bietet mir für einen Abend so viel, als wir Alle mitsammen in besonders günstigen Wochen eingenommen haben. Selbstverständlich nahm ich dieses glänzende Anerbieten mit tausend Freuden an; ich habe sofort den Contract unterzeichnet." Ein Schimmer der freudigen, glückseligen Ue.berraschung flog über das geschminkte Gesicht der Frau. ,. „Es handelt sich um die Arbeiten auf dem Seile?" Er nickte. „Und wann soll ich unterschreiben, Arthurio, und wird unsere Kleine auch auftreten?" Er lächelte verlegen. Die Erörterung dieses Punktes schien ihm recht fatal und unbehaglich zu sein. „Hm, von Euch Beiden ist eigentlich nicht gesprochen worden, aber ich werde natürlich Alles daran setzen, daß der Director später..." „Du willst uns doch nicht verlassen?" schrie sie entsetzt auf. Sie erblaßte; aber die grelle Schminke verdeckte die plötzliche Blässe des Schreckens fast vollkommen, und mur die Augen waren auf einmal von gelblichen, wachsfärbigen Rändern umgeben. Dadurch bekam das Gesicht der Seiltänzerin, die infolge der erlittenen Entbehrungen und Kümmernisse ohnehin bedeutend älter aussah, als sie eigentlich war, noch mehr den Ausdruck des Verfallenen, Siechen. Den Akrobaten mußte beim Anblick dieses Schmerzes, der sich in einem Beben des ganzen Körpers der armen Miß Aber das Elend wird nicht mehr lange dauern." Sein Ton war ganz anders wie sonst, ganz verändert, und sie warf einen fragenden Blick auf ihn. Er that, als bemerke er ihn nicht, und fuhr mit erkünstelter Gelassenheit fort: „Ich will dir's nicht länger verhehlen. Ich weiß, daß du mich heiß und ehrlich liebst, ich weiß, daß Alles, was mirVor- therl bereitet, auch dir Freude schafft." Bei diesen Worten wurde der Ausdruck ihrer Augen aus einem fragenden ein V . 1 angstvoller. Er wendete sich ab und nestelte emsig an seinem Tricot herum. Heute schien ihm das Ankleiden besondere Schwierigkeit zu bereiten. „Was hast du denn vor, Arthurio daß du so seltsame Reden führst, die iä nicht verstehen kann? Dein Vortheil ist doch immer der meine. Sind wir nicht Mann und Weib, wenn auch ohne Segen

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