Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

34 Der Vater ergriff sie und küßte sie und netzte sie mit seinen Thränen, dann legte er sie sachte wieder zurück, als wär's eine Reliquie. Wie war das Antlitz des Gauklers trotz der Schminke vom Leid entstellt und verzerrt! Harun al Raschid blieb lange in den traurigen Anblick versunken, sein Auge blickte starr auf das Kind, dann neigte er sein Haupt und lauschte den Athemzügen des sterbenden Kindes. „Hat er geweint?" fragte er dann, sich plötzlich aufrichtend. „Nein, er hat auch dazu nicht mehr die Kraft." Und die arme, unglückliche Frau brach in einen Thränenstrom aus. „Muth, Muth, Marie!" sagte er, „das Haus ist voll, viel Geld ist eingegangen, wir werden den besten Arzt rufen und alle Arzneien zahlen können." „Diese Leute. ... o, mein Gott. . ■ . auch heute!" „Doch ich muß fort, ich fehle schon — oder geh' du auf einen Sprung, mach' zwei, drei Sachen am Trapez und den indischen Tanz, willst du? Indessen bleib ich beim Kleinen, Muth, Marie!" Das arme Weib richtete sich auf, trocknete die Augen, ordnete das zerknitterte Costüm und machte einige Schritte, ohne jedoch den Blick von dem Bettchen abzu- wenden. „Warte," sagte t^r Mann, „so kannst du nicht hinaus." Und mit Farbe und Schminke malte er die Maske der Jugend und Heiterkeit in das schmerzverstörte Gesicht seines Weibes. „Muth, Fassung, heut' Abends mit dem Geld hol' ich den Arzt, du weißt es ja, so lange Leben, ist noch Hoffnung vorhanden!" Und als er allein geblieben in dem trüben Halbdunkel des Wagens, da nahm Harun al Raschid die abgezehrte Hand des Kindes wieder in die seine. Das kranke Kind lag noch immer todtenähnlich da wie früher. Plötzlich schlug es die Augen auf. Ein Zucken ging durch den Leib und ein Seufzer entrang sich den blassen Lippen, der in ein leises Stöhnen überging. Und der arme Vater bog sich lauschend danieder und betastete den Puls, die Stirne und die Wangen des Knaben. Dann ergriff er mit zitternder Hand ein Fläschchen, goß einige Tropfen auf einen Löffel und suchte das Kind mit süßen, liebevollen Worten zu bewegen, den heilsamen Trank zu nehmen. „Willst du nicht? Es ist so gut, weißt du, und wird dich gesund machen. Trink', trink' die Medicin! Sieh' der Papa bittet dich darum!" Aber die Lippen des Kleinen blieben geschlossen. Da — ein neuer Seufzer — ein herzzerreißendes Röcheln. „Hans! Hans!" ruft der Vater, „kennst du mich nicht, hörst du deinen Vater nicht mehr? Sieh' mich an, Hans, um Gotteswillen sieh mich an, öffne deine lieben, frommen Augen! — Mein Gott, er athmet nicht mehr! — Hans! Hans!" In diesem Augenblicke wurde die Thüre des Wagens aufgerissen und die Mutter erschien, erhitzt, athemlos, mit wogendem Busen. Sie war mit einem Sprung am Bette. Harun al Raschid aber konnte den Anblick nicht ertragen, er lief hinaus und stürzte auf die Bühne. Und mit halberstickter Stimme schrie er wie ein Wahnsinniger in die Menge hinein: „Meine Herrschaften, das Spiel ist zu Ende! Mein Kind, mein armes Kind ist todt!" ' Dumpfe Stille folgte diesen Worten, aber nur einen Augenblick lang, dann wurde laut gelacht und lautes Händeklatschen erscholl. Auf dem Programm stand ja deutlich: „Komisches Entrse des Clowns". Was konnte es denn Komischeres geben, als den Hanswurst, der da so drollig von dem Tode sprach? Mitten in dem Sturme des Beifalles jedoch stand er wie entgeistert. Da erfaßte den Mann eine wahnsinnige 3b Wuth. Mit einem Satze war er hinter den Coulissen verschwunden, wie ein wildes Thier stürzte er nach dem Wagen und einen Moment später stand er, hellen Wahnsinn in den Blicken, die Leiche seines Kindes auf den Armen, vor dem entsetzten Publicum, das doch eben erst nach dem lustigen Clown gerufen hatte.... II. Der „AuMaiser". Die „unübertrefflichste, berühmteste Artistenassociation von Mitteleuropa und Nordamerika" — wie sich die Gauklertruppe auf ihren riesengroßen, giftrothen Placaten bescheidentlich selber titulirte — hatte eine ganz besonders prunkvolle und herrliche Vorstellung angekündigt. Es galt das Benefice der Frau Principal. Das heißt, eigentlich war dieser Vor- wand mit dem Benefice nichts Anderes als eine kleine, ganz unschuldige Misti- fication des „verehrungswürdigen Publi- cums und hohen Adels", der sich auf dem verwahrlosten Bauplatze — wo der ausrangirte Eisenbahnwaggon Halt gemacht hatte, der das Heim dieser illustren Artistenassociation bildete — allabendlich zu versammeln pflegte. Hier konnten sich gegen ein ungemein bescheidenes Entröe — und bei einiger Findigkeit auch als Gratis- zuschauer — die Taglöhner, Dienstmädchen und Gassenjungen, welche das ständige Auditorium bildeten, an den Kraftübungen der Akrobaten und an den armseligen Späßen des einzigen Bajazzos ergötzen, über den die Truppe verfügte. Exquisit waren also im Großen und Ganzen die Genüsse, deren man hier theilhaftig werden konnte, auf keinen Fall zu nennen. Aber einen Glanzpunkt wies doch das Programm auf, eine Nummer, bei der auch ein Circushabituä das Gruseln lernen konnte, und die auf die, gegen den Anblick so halsbrecherischer Productionen weniger abgehärteten, naiveren Zuschauer 3*

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