Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

8 9 Sie fand nicht mehr den Muth, dem, welchem sie Alles gewesen, der auf der weiten Welt niemanden Anderen besaß in den Tagen des Alters als sie allein, und dessen ehrlichen Namen sie zum Lohne für die Entbehrungen, die er seit dem Tode der Mutter für sie gelitten, für die Opfer, die er ihr so selbstlos gebracht, nun. jetzt mit so unabwaschbarem Schimpf befleckt, vor das Antlitz zu treten. Nur wenige, flüchtig hingeworfene Zeilen ließ Mathilde zurück, die Verlorene, welche noch in derselben Stunde, in der ihr Vater von ihrer und seiner Schande erfahren hatte, dem väterlichen Hause, der Stätte, wo sie geboren wurde, auf der sie so viel unschuldige Freuden erlebte in den Tagen der Kindheit, für immer den Rücken kehrte. Nur wenige Zeilen, in denen sie ihn bat, ihr nicht seinen Fluch nachzusenden in das Elend, das ihrer harre — kein Wort der Anklage über den Verführer, kein Wort der Vertheidigung für die eigene Schuld. Und der gebrochene, betrogene Greis fluchte seinem verlorenen Kinde nicht! Aber er sandte sein Rachegebet gen Himmel um Sühne für die herzlose That des Menschen, welcher so ruhig ein fremdes Leben zertrat, er ballte in ohnmächtigem Grimme die Fäuste, wenn er des Erbärmlichen gedachte, der so verständig bei dem schmählichen Werke mitgeholfen! „Der du über den Wolken thronest und richtest über die Thaten der Menschen, Herrgott, du Lenker unserer Herzen, der du gerecht jegliche Schuld abwägest und in die Tiefen der Verdammniß schleuderst den Bösen, dein ist die Rache! Aber wenn die mich als Werkzeug wählen willst zur Sühne des Frevels; o dann, du Ewiger, erweise mir die Gnade und lass' mich dafür büßen in der flammenden Lohe bis zum Ende der Zeiten, dann, o Allmächtiger, gib mir ein Zeichen, daß ich erfülle dein Gebot!" Da Pochte es an der Thür. Der Greis erhob sich von den Knien, um zu öffnen — der Verwalter stand vor ihm. Macht Euch bereit, lieber Sturm, man hat gemeldet, daß durch einen bis heute unbenierkt gebliebenen Spalt mit großer Vehemenz Gase in den „Carolusstollen" dringen; es ist möglicherweise „böse Luft" und wir müssen sofort nachsehen. — . J Sputet euch — der Herr Baron erwartet uns bereits!" Der Werkmeister stand erschüttert; er richtete einen Blick des Dankes nach oben. „Ich folge sofort, Herr Verwalter," erwiderte er hastig, „erlaubt nur noch, daß ich Lampe und Haue nehme!" Er begab sich in den Hintergrund des Zimmers und machte sich dort an einem Wandschranke zu schaffen. „Eilt euch, geschwind, geschwind!" drängte Bollmann ungeduldig. „Ich bin bereit!" antwortete Sturm mit fester Stimme und folgte dem Verwalter. Beim Eingänge des Schachtes erwartete sie bereits der Freiherr, der — ein Zeichen seiner nervösen Stimmung — leise vor sich Hinpfiff, Ä „Eine unangenehme Fahrt!" rief er den beiden Männern entgegen. „Jawohl, eine unangenehme Fahrt," wiederholte Sturm ruhig und mit bedeutungsvollem Nachdruck, während er mit der Rechten an dem Sacke tastete. „Man sagte mir, die Folgen könnten leicht für das ganze Werk von großer Bedeutung werden!" fuhr Reisinger verdrießlich fort. . Bollmann nickte zustimmend. Der Oberhäuer bestieg zuerst den Fahrstuhl, er blickte vor sich hin, als ob er iber etwas sehr Wichtiges nachsinne. „Ich meine," wendete er sich an den Verwalter, „der Herr Baron müßte ja nicht mit jinunter." £ „Ich muß dabei sein!" entschied dieser unfreundlich, fast barsch. Der Alte ließ sich nicht irre machen. „Auch Sie, Herr Bollniann, müssen nicht — ich kann mit einigen Knappen ein- s sahren! . ." „Es ist zu wichtig!" „Aber nicht ohne Gefahr vielleicht!" „Wieso? die Lampen sind geschützt, vorwärts, Alter!" „Gut, so soll's also sein!" bemerkte der Oberhäuer gelassen, ich wollt' nur mein Gewissen beruhigen — aber es muß sein!" Langsam sank der Fahrstuhl an den rasselnden Ketten in die gähnende Tiefe. Als sie tiefer kamen und bald auf- sitzen mußten, da regte sich keiner der drei Männer, obwohl, wie beim Scheine der vergitterten Grubenlampen wahrzunehmen, sich Jeder im Zilstande hoher Erregung befand. „Es ist kein Zweifel mehr," begann der Verwalter, nachdem . er die Luft mit einem langen Athemzuge eingesogen, „was meint Ihr Sturm?" Dieser nickte nur bejahend mit dem Kopfe, aber aus seinen Augen zuckten Wettcrstrahlen auf die beiden Anderen. Er hob die Lampe und ließ sie hinab in den Stollen. Der Baron- eilte vorwärts, der Verwalter aber wandte sich, nachdem er schon einige Schritte ging, nach dem Oberhäuer um, der noch immer am Eingänge stand. Der Alte war heute so wunderbar! „Ich komme schon," rief Sturm, „hab' nur nachgesehen am Aufzug!" Und so schritten sie, Sturm als Letzter, bei dem unsicheren, dämmerigen Scheine hinein in den dunklen Gang. „Hier ist's!" sagte Bollmann nach einiger Zeit mit dumpfer Stimme, auf eine Stelle im Gestein weisend, von der ein leises Pfeifen zu kommen schien. „Verflucht!" rief der Freiherr, zornig auf den Boden stampfend, „der Betrieb wird unterbrochen werden müssen — vielleicht auf lange Zeit?" wendete er sich an den Verwalter.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2