Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

94 95 Ursachen dieser unerwarteten Wendung wurde mancherlei geschrieben und gesprochen auch der Grund wurde angesührt, daß die Stellung des Dürsten durch die antokratischen Neigungen Skambulow's in Gefahr kam, an Ansehen verkleinert zn werden. Andererseits wurde gesagt, daß von Seite des Fürsten Ferdinand eine Annäherung an Rußland gesucht werde, um doch die Anerkennung seitens des Czaren zu erringen; Stambulom wäre aber das größte Hinderniß einer solchen Verständigung gewesen, deshalb mußte er vom Schauplatze verschwinden. Der große Staatsmann hat nun erklärt, sich m Opposition gegen die Regierung begeben zu wollen. Stamvutow. Mlwänien verbrachte das letzte Jahr in ziemlicher Ruhe und Ungestörtheit. Weder die innere, noch die äußere Politik warf nennenswerthe Welleu. Aber ein Ereigniß trat ein, das die ganze Bevölkerung Rumäniens mit lautem Jubel aufnahm. Prinzessin M a r i e, die Gemahlin des Thronfolgers, genas am 16. October 1893 eines Sohnes, der in der Taufe den Namen Carol erhielt. Eine Enkelin der Königin von England und eine Nichte des Czars hat Rumänien oen Erben geschenkt, den- das Schicksal der Königin Elisabeth verweigert hatte. Nun mag das rumänische Vo'.k doppelt hosfnungsfreudig in die Zukunft sehen. Schweden und Worwegen. Die vereinigten skandinavischen Reiche hatten auch im heurigen Jahre fortwährend unter den separatistischen Bestrebungen Norwegens zu leiden. In der letzten Zeit hat sich der früher noch sachlich und mit politischen Waffen geführte Kamps fast ganz in ein persönliches Duell zwischen dem Storthing und dem König ausgestaltet. So wurde am 3. April d. I. im Storthing der Antrag gestellt, die Apanage des Königs auf 100.000 Kronen herabzusetzen. Dieser Antrag ging nun allerdings nicht durch, aber dafür wurde ein Pfeil gegen den Kron- I Prinzen abgeschnellt. Es ist nämlich dem KronPrinzen nachgesagt worden, daß er eine Aeußerung gethan hätte, welche auf die Absicht eines bewaffneten Einfalls in Norwegen hingedentet habe. Nun wurde beschlossen, die Apanage des Kronprinzen insolange zu suspendiren, bis derselbe die ihm zugeschriebeue Aeußerung demen- tiren würde. Es ist selbstverständlich, daß der Kronprinz nicht geneigt ist, auf diese demüthigende Bedingung einzugehen. Und so dürfte Europa das Schauspiel erleben, daß ein Volk dem Sohne seines Herrschers den Brodkorb höher hängt, wie das sonst nur ganz gewöhnlichen Sterblichen ab und zu widerfährt. Aie Schweiz ist, wie es scheint, müde geworden zum Schlupfwinkel und Hinterhalt alles lichtscheuen Gesindels' von ganz Europa zu dienen. Besonders vor den Änarchistencolonien, die sich dort beständig mehren, scheint es den Behörden ernstlich zu grauen. Noch im Monat August konnte man die ganze internationale Gesellschaft in Zürich beisammen sehen, da dort unter dem Titel eines Internationalen Arbeiter-Congresses eine socialistisch-anarchistische Versammlung tagke, bei der es bunt genug zuging. Die Anarchisten und die unabhängigen Socialisten geriethen in einen so heftigen Widerstreit der Meinungen, daß die Congreßverhandlungen sich am 7. Augnst in eine förmliche Rauferei verwandelten. Nun dürsten solche Vorkommnisse und andere noch viel schlimmere Dinge für die Zukunft doch etwas eingeschränkt werden. Die lange vorher berathenen Anarchistengesetze gelangten am 12. April d. I. im Bundesrathe zur Annahme. Die Schweiz wird ihren freiheitlichen Traditionen nichts vergeben, wenn sie internationalen Schädlingen gegen über ihr Schützeramt aufgibt. Nordamerika. Nordamerika, das ohnedies seit jeher den Wallfahrtsort aller Derjenigen bildet, welche die äußersten und letzten Ausläufer der materiellen Cultur der Gegenwart kennen lernen wollen, Amerika, das Land der höchsten und neuesten Erfindungen, der höchsten technischen undcommer- ciellen Leistungsfähigkeit, das Land des fieberhaft hastenden, alles bisher Dagewesene über- treffenden Verkehrs, dieses Land, bei dem es keine Vergangenheit, sondern nur eine Zukunft gibt, war im Sommer 1893 ganz besonders der Zielpunkt wißbegieriger Reisender. Wurde doch in Chicago, der „weißen Stadt am Michigan- see", eine Weltausstellung eröffnet, von der prophezeit worden war, daß sie alles bisher Da- gewesene übertreffen sollte. Die Ausstellung zeugte thatsächlich von der ins Kolossale gehenden Erfindungsgabe und dem ins- Aeußerste ausgebildeten Gewerbefieiße der Amerikaner. An räumlicher Ausdehnung, numerischem Reichthum der Objecte war thatsächlich noch keine Ausstellung so großartig. Auch die aus die große Masse berechneten Anziehungsmittel fehlten nicht. Eines der größten und meistbestaunten Wunder war das riesige Ferris-Rad, eine Art „Haspel , wie die Wiener sagen, ein kolossales kreisrundes, drehbares Gerüst, an dem ganze Waggons mit Passagieren zu schwindelnder Höhe emporgewunden und wieder hinabgelassen wurden. Freilich stellte sich ein gewisses, durch die Entfernung bedingtes Mißverhältniß zwischen der Betheiligung Europas und Amerikas heraus. Verhältnißmäßig am würdigsten war noch Deutschland und Oesterreich-Ungarn vertreten. Namentlich unser Vaterland erntete trotz des bescheidenen Raumes, auf den es beschränkt war, großen Ruhm, zu dem hauptsächlich unser hochentwickeltes Kunstgewerbe beitrug. Uebrigens gab es noch eine wienerische Specialität auf der Ausstellung, die sich des größten Beifalls der Daukees erfreute. Es war dus eine dem „Hohen Markt" von der Wiener- Musik- und Theater-Ausstellung nachgebildete altwienerische Straße, in der nach dem bekannten Muster Berkaufsläden Wirthshäuser, Volksbelustigungen, namentlich urwienerische Sänger und Musiker und ein veritabler „Heuriger" ihre befeuernde Wirkung ausübteM Der praktische Sinn der Amerikaner bethätigte sich auch bei dieser Ausstellung. Sie faßten kurz und gut den Entschluß, die ganze Ausstellung in der Weise zu dupliciren, daß sie nach Schluß der Saison von Chicago die ganze Ausstellung nach San Francisco hinüberspedirten. Das beißt, die ganze Ausstellung war es wohl nicht, da sehr viele Aussteller der östlichen Hemisphäre von dem materiellen Erfolge ihrer Beschickung in Chicago keineswegs entzückt waren und mit ihren Objecten die Heimreise antraten, aber ein großer Theil der Ausstellung übersiedelte dennoch nach dem Goldlande am stillen Ocean. Die Leute im Goldlande aber verstanden es meisterhaft, über etwaige Lücken der Ausstellung hin- wegzutäuschen. Sie verunstalteten Fest auf Fest, so daß der Besucher gar nicht recht zur sachlichen Prüfung dieses Schauspieles kam und wie betäubt in den Strudel des Vergnügens hineingerissen wurde. Bis in den Sommer des Jahres 1891 währte das glanzvolle Bild diefes Ausstellungsunternehmens. Zn diesen lichten Bildern gesellte sich aber Mitte Juni 1891 ein tiefer Schatten, der auch der blutigen Reflexe nicht entbehrte und aufs neue zeigte, wie in der modernen Gesellschaftsordnung der Gegensatz zwischen Besitzenden und Besitzlosen sich tagtäglich verschärft. Mitte Juni brach nämlich in Chicago, das im vorigen Jahre erst eine so glanzvolle Rolle gespielt hatte, ein Strike der Eisenbahnarbeiter aus. Man weiß, was eine Unterbrechung des Eisenbahnverkehrs für alle civilisirten Länder und ganz besonders für Nordamerika bedeuten würde; deshalb wurde dieser Strike von allem Anfang an mit großer Besorgniß betrachtet. Thatsächlich kam es dahin, daß auf einer großen Anzahl von Eisenbahnstrecken der Verkehr eingestellt werden mußte. Die Strikenden griffen fahrende Züge, Depots, Bahnhöfe und Magazine an, verwüsteten Alles, was sie erstürmen konnten, und provocirten so das Einschreiten der bewaffneten Macht. Es kam infolge dessen zu blutigen Zusammenstößen, bei denen sowohl auf Seite der Strikenden, wie auf Seite der Polizei, der Milizen und der regulären Truppen zahlreiche Verluste an Menschenleben und Verwundungen zu beklagen waren.

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