92 93 in Gotha die Feierlichkeiten aus Anlaß der Vermälung des Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen mit Prinzessin Victoria Melitta Sachsen-Coburg stattfanden, war auch der Czarewitsch als Gast anwesend. Bei dieser Gelegenheit geschah es, daß der Großfürst die Prinzessin Alix von Hessen kennen und lieben lernte, so daß bald darauf die überraschende Nachricht durch die Welt ging, daß der Erbe des größten Reiches sich mit der Prinzessin verlobt habe. Am 27. Mai erließ der Czar einen hoch- bedeutsamen Ukas, der einen tiefen Blick in die russische Beamtenwirthschaft gestattet. Der Kaiser entzieht durch diesen Erlaß den Ministern, Gouverneuren und sonstigen hohen Beamten das Recht, Subalternbeamte zu ernennen oder zu entlassen und stellt, unter unmittelbarer Con- trole des Kaisers, den Special-Controlausschuß, welcher unter Kaiser Nikolaus bestanden hatte, wieder her. Er wird wohl wissen warum. Anfangs Juni erfloß das Decret . des Czaren, durch welches Jswolski zum Minister- residenten beim Vatican ernannt wird, so daß von nun an regelmäßige, diplomatische Beziehungen zwischen Rußland und dem Papste bestehen. Dank den hochsinnigen Absichten des Papstes und dem versöhnlichen Geiste desselben wurde diese normale Ordnung der Dinge Hergestellt, welche eine Bürgschaft des Friedens und guten Einvernehmens für die Zukunft bedeutet. Wie sehr die Hoskreise fortwährend vor nihilistischen Attentaten besorgt sind, das beweist am besten ein Ukas, den der Czar am 8. Juni erlassen hat. In demselben wird dem General-Adjutanten Tscherewin die Oberaufsicht, somit auch die Verantwortung für die Sicher- heit der kaiserlichen Residenzen und bei Reisen des Kaisers übertragen. General Tscherewin führt den Titel „General vom Tag". Thatsächlich gingen in der letzten Zeit vielfach Gerüchte von Entdeckungen Verschworener und Attentäter um, und neuestens hieß es sogar, daß der Czar die Reise zur Einweihung der Votivkirche in Borki unterlassen habe, weil längs der Bahn Minen- anlazen entdeckt wurden. Serviert. Dieses unglückliche Land kann nicht zur Ruhe kommen. Ein fortwährender Wechsel in der Herrschaft der einzelnen Parteien zerrüttet das Königreich, Liberale und Radieale befehden sich bis aufis Messer, und zu Allem kommt noch die unglückselige Veranlagung des Exkönigs Milan, für den es kein Abkommen, kein Wort, keinen Eid zu geben scheint, und der lediglich nach momentanen Impulsen — um nicht zu sagen Launen — in verderblichster Weise in die Geschicke des Landes eingreift. Um die Zeit, da unsere Betrachtung ihren Anfang nimmt, war zur Abwechslung wieder einmal ein radicales Cabinet am Ruder. Wie es nun einmal in Serbien Sitte ist, bedeutete die Uebernahme der Regierung von Seite der Radicalen Gewalt gegen die Liberalen, und es wurde auch alsbald den Mitgliedern des früheren Cabinets der Proceß gemacht. Das ging so bis zum Beginne dieses Jahres. Da kam plötzlich der Vater König Alexanders, Milan, nach Serbien, wiewohl er sich durch eine große Summe das Versprechen hatte abkaufen lassen, höchstens im Falle einer Erkrankung seines Sohnes serbischen Boden zu betreten. Das radicale Cabinet Gruic gab angesichts dieses offenkundigen Vertragsbruches sofort seine Demission. Vor den König und Milan berufen, wurde Gruic um den Grund der Demission befragt und äußerte sich freimüthig darüber. Milan antwortete mit heftigen Angriffen gegen die Radicalen und verlangte, daß das gerichtliche Verfahren gegen Avakumovic und seine liberalen Collegen aufgehoben werde. Aber Gruic lehnte das entschieden ab und es blieb bei der Demission. Unter manchen Mühen und Fährlichkeiten wurde nun ein Coalitionsministerium unter Simic's Führung zu Stande gebracht. Am 26. Jänner wurde die Skupschtina eröffnet. Sofort erhoben die Radicalen einen geharnischten Protest gegen Milanes Aufenthalt in Serbien. Die Krone antwortete darauf mit der Amne- stirung der angeklagten liberalen Minister. Es ist natürlich, daß unter solchen Verhältnissen von irgend einer Stabilität in der Regierung nicht rie Rede sein konnte, und so stehen wir schon am 3. April wieder vor einer Ministerkrise, aus der ein Ministerium Nikolajevic hervorging. Auch dieses konnte den verfahrenen Staatskarren nicht flott machen. So kam es denn am 20. Mai abermals zu einem Staatsstreich. König Alexander erließ ein.e Proclamation, durch welche die Suspendirung der Verfassung von 1888 ausgesprochen, und die ältere Verfassung von 1869, welche die Rechte des Volkes bedeutend ein- schränkt und die Gewalt des Königs außerordentlich erhöht, wieder hergestellt wird. König Milan, der seinerzeit die alte Verfassung aufgehoben hatte, und sich bei Einführung der neueren wie ein rechter Volksbeglücker vorkam, derselbe Milan hat durch seinen Rath wi der das Gebäude gestürzt, das er selbst aufgebaut hatte. Das Cabinet Nikolajevic fand es angemessen, seine Demission zu geben, wurde aber vom König in seinen Functionen bestätigt. Wie lange es am Ruder bleiben wird, und welcher der nächste Einsall Milans sein wird, muß ab- gewartet werden. Indessen versucht es König Alexander durch eine Wallfahrt nach Con- stantinopel, von der er einige nationale Errungenschaften in Macedonien erwartet, und von denen wir bereits oben Kenntniß genommen haben, die Erbitterung der Patrioten abzu- schwächen. Wutgarien. Unter freundlichen Auspicien begann das Jahr für diesen kleinen aber rüstig vorwärts- strebenden und klug erwägenden Staat. Ein beliebter Fürst, eine Fürstin, von der Ulan demnächst einen Erben des Reiches erwartete, ein fester und weiser Lenker wie Stambulow — was brauchten die Bulgaren mehr? Lagen darin nicht alle Garantien dauernden Glückes? Ein Schatten allerdings siel in den erfreulichen Stand der Dinge. Am 17. November gelangte nach Sofia die Nachricht von dem in Graz erfolgten Tode des ersten Bulgarensürsten, Prinzen Alexander von Battenberg, der zuletzt Graf Hartenau hieß. So viel auch in Bulgarien der Undank an diesem edlen Fürsten gesündigt haben mag, sein Tod weckte doch allgemeine und ehrliche Trauer und Fürst Ferdinand selbst stellte sich an die Spitze der Trauerkundgebungen. Die Sobranje beschloß den Leichnam des Helden von Slivnitza in bulgarischer Erde zu begraben und der Witwe desselben aus Landesmitteln eine Pension zu bewilligen. Und so geschah es. In würdiger und feierlicher Weise wurde Alexander zur letzten Ruhestätte in dem Lande getragen, das eigentlich erst durch ihn geschaffen wurde. Am 30. Jänner gab es in Sofia und im ganzen Lande hellen Jubel. Die Fürstin hatte dem Lande einen Thronerben geschenkt. Fürst Ferdinand that dies dem Volke in einem Manifest kund und theilte gleichzeitig mit, daß sein Sohn Prinz Boris heißen werde. Unzählige Glückwünsche kamen dem Fürsten zu, unzählige Feste wurden im Lande gefeiert, ganz Bulgarien schwamm in Entzücken. Einen zweiten lang gehegten Herzenswunsch der Bulgaren erfüllte das Jrade des Sultans vom 26. April. Den unermüdlichen Bemühungen Stambulows war es endlich gelungen, die Frage der bulgarischen Bisthümer in Macedonien durchzusetzen, und das Handschreiben des Sultans legte in die Hände des bulgarischen Exarchen das Recht, drei Bisthümer in Macedonien zu errichten; überdies schenkte der Sultan den Grund für die Erbauung eines bulgarischen Seminars in Macedonien. Was man noch vor einigen Monaten für undenkbar gehalten hatte, wurde am Ende dieses Halbjahres zur Thatsache: Bulgarien obne Stambulow. Schon lange hatte es den Anschein, als ob das Verhältniß zwischen dem Fürsten und seinem Premierminister nicht so ungetrübt wäre, wie früher. Zu Beginn des Monats Juli trat nun das überraschende Ereigniß ein: Stambulow deunssionirte und der Fürst nahm seine Demission an. An seiner Stelle wurde Stoilow zum Ministerpräsidenten ernannt. Ueber die
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