Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

90 91 Unterhaus nahm die Homerule-Bill in dritter Lesung an. Allerdings war damit das Schicksal des Gesetzes noch nicht entschieden und ist es bis heute noch nicht, denn es war schon damals vorauszusehen, daß das Oberhaus in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung nie und nimmer diese Vorlage, in der es eine Gefährdung der Einheit des großbritannischen Reiches sieht, annehmen werde. Am 16. October, zu derselben Zeit, als die russische Flotte in Toulon vor Anker lag, stattete eine englische Escadre unter Commando des Admirals Seymour im Golfe von Tarent Italien einen Besuch ab, und begab sich von dort nach Spezia, wo das italienische Königspaar weilte. Es war dies der einzige Umstand, der die Festesfreude der Franzosen bei ihrem Verbrüderungsfeste mit den Russen einigermaßen zu trüben im Stande war. Aord Nosevery. Es ergab sich im weiteren Verlause der innerpolitischen Angelegenheiten thatsächlich, daß das Haus der Lords die Homerule-Bill nnt aller Entschiedenheit ablehnte. Von nun an entbrannte ein erbitterter Kampf gegen das Oberhaus, der bis zum heutigen Tage noch nicht abgeschlossen ist. Fortwährend werden gesetzgeberische Mittel erwogen, durch welche die gegenwärtige Zusammensetzung des Oberhauses verändert, oder dessen Prärogative eingeschränkt, oder gar der ganze Vertretungs- körper beseitigt werden sollte. Gladstone, der nun endlich auch die Beschwerden des Alters allgemach zu fühlen beginnt und obendrein an einem Staarleiden erkrankte, reichte am 4. März seine Demission ein. Ihm folgte ein Cabinet Rosebery. Als Rosebery am Tage darauf sich und sein Cabinet dem Hause vorstellte, erfolgte eine Bedauerungskundgebung und gleichzeitig sprach das Haus die Hoffnung aus, daß das Cabinet Rosebery den Kampf gegen das Oberhaus anfnehmen werde. Dieser Kampf ist noch nicht ausgekämpst; mit diesem Fragezeichen schließt die Jahreschronik der großbritannischen Königreiches. Mittetmeertander, Italien krankt fortwährend an seinen sehr im Argen liegenden wirtschaftlichen Verhältnissen und an seiner chronischen Finanznoth. Alle politischen Ereignisse in diesem Lande sind von diesem Standpunkte zu begreifen und zu verstehen. Seit Heuer lenkt wieder Crispi die Geschicke des Landes, das unter ben Verpflichtungen, die ihm die Zugehörigkeit zum Dreibünde auferlegt, schwer seufzt. Am 16. October vorigen Jahres besuchte, wie an anderer Stelle erzählt wurde, eine englische Escadre unter Admiral Seymour Tarent. Am 17. fand daselbst ein Festmahl statt, bei welchem Admiral Corsi einen Toast auf die Königin von Großbritannien ausbrachte, worauf Seymour mit einem Trinkspruch auf den König von Italien antwortete. Am 26. October segelte die Escadre nach Spezia, wo eine Flottenrevue unter den Augen des italienischen Königspaares stattfand. Das Ende des Jahres 1893 und der bisher verflossene Theil des Jahres 1894 ist von beständigen Unruhen und Ausständen in der apenuinischen Halbinsel ausgesüllt. Schon seit längerer Zeit gährte es in Italien und Anfangs Jänner nahmen die Volksexcesse in einer Weise zu, daß 24.000 Mann Militär zur Herstellung der Ordnung einberufen wurden. Der Grund der Unruhen lag ursprünglich darin, daß die Bevölkerung über die Rücksichtslosigkeit erbittert war, mit der die Verzehrungssteuer von den Gemeindebehörden eingetrieben wurde. Die infolge der Unruhen vorgenommenen zahlreichen Hausdurchsuchungen lieferten jedoch Documente zu Tage, aus welchen hervorging, daß der socialistische Bund „fasci dei )avoratoriu auf diese Bewegung mächtigen Einfluß nehme und sich einen allgemeinen Aufstand zum Ziele gesetzt habe. Der Gouverneur General Morra wurde daraufhin am 8. Jänner ermächtigt, drei Kriegsgerichte in Palermo, Messina und Calta- nisetta zu errichten und mit deren Hilfe aufs schärfste gegen die Revolutionäre Vorzugehen. Die Bewegung griff aber trotzdem weiter um sich. Sie verbreitete sich nach Apulien, wo die Menge die Kasernen stürmte und durch Gewehr- feuer zurückgeschlagen werden mußte. Gleichzeitig machten sich um die Mitte Jänner in Carrara und Massa anarchistische Banden bemerkbar. Zwischen ihnen und dem Militär kam es zu einer förmlichen Schlacht, bei der es zahlreiche Todte und Verwundete gab. Infolge dieser Vorgänge wurde über die Gegend der Belagerungszustand verhängt. Aber das Feuer glimmt unter der Asche fort, und es war wohl ein Lebenszeichen der nie schlummernden anarchistischen Geheimagitation, daß am 8. März auf der Piazza Monte Cittorio eine Bombe platzte, durch welche acht Personen schwer verletzt wurden. Am 16. Juni wurde sogar der leitende Staatsmann Italiens, Crispi, die Zielscheibe eines anarchistischen Attentates. Als der Premier in seinem Wagen durch die Straßen fuhr, feuerte plötzlich ein unbekanntes Individuum mehrere Revolverschüffe auf ihn ab, ohne ihn jedoch zu treffen. Crispi wurde sowohl von seinem Könige und der italienischen Bevölkerung, als auch von den Repräsentanten der auswärtigen Mächte zu seiner Errettung auf das Wärmste beglückwünscht. Auch Spanien, das doch sonst abseits von dem Getriebe der großen, politischen Tagesfragen liegt, und unter der weisen Königin- Regentin ein ruhiges Dasein führen könnte, ist bereits vom Gifte des Anarchismus insicirt und auch dort hört man hie und da von Bombenattentaten. So wurde am 7. November in Barcelona, als das Lyceum-Theater mit einer Aufführung des „Wilhelm Tell" eröffnet wurde, eine Bombe in den Zuschauerraum geschleudert, durch welche neun Frauen und sechs Männer getödtet und zahlreiche Personen verwundet wurden. Am stillsten ging es noch in der Türkei, s dem ehemaligen Wetterwinkel von Europa zu. Die ruhig abwartende und vorsichtig zaudernde Politik des Sultans hat es bis jetzt verstanden, Conflicte zu vermeiden und etwa schon bestehende nicht acut werden zu lassen. Das zeigt sich am besten in der Art und Weise, wie man in Konstantinopel auf das ungeberdige Verhalten des Khedive von Egypten dämpfend einzuwirken sucht. Dieser junge Herrscher, der die Oberhoheit der Engländer nur zähneknirschend erträgt, hätte durch seine unvorsichtigen Domonstrationett und Herausforderungen den Engländern gegenüber schon manchen Sturm herausbeschwören können, wenn man ihn nicht von Konstantinopel aus immer wieder die rechten Wege gewiesen hätte. Neuestens beginnt sogar unter den kleinen Balkanfürsten ein förmlicher Wettbewerb um die Gunst der Türkei. Seit Serbien sieht, wie gut Bulgarien bei der politischen Unterordnung unter die Pforte führt, sucht es sich, wenigstens moralisch, auch unterzuordnen, und der junge König Alexander, dem die häuslichen Wirren, die sein Volk schon lange verstimmen, die Verpflichtung auferlegen, doch irgend einen außerpolitischeu Erfolg zu seinen Gunsten geltend zu machen, hat neuestens eine Bittfahrt nach Constantinopel unternommen, um als Gegengewicht gegen die bulgarischen Bisthümer in Macedonien einige serbische Bis- lhümer ebendaselbst zu erlaugen. Rußland. Das große Czarenreich, das sich das „heilige" nennt, und in dem es doch so recht unheilig zugeht, krankt immer noch an seinen alten Erbübeln. Noch immer feiern Bestechlichkeit, Beamtenwillkür, Mißwirthschaft, ihre alten Orgien, noch immer frißt der Wurm des Nihilismus an dem Marke des Staates. So sehr das Reich selbst darunter leidet, so liegt doch darin für die anderen europäischen Staaten eine gewisse Friedensgarantie. Rußland kann es in diesem Zustande nicht wagen, große auswärtige Verwicklungen hervorzurufen und sich in kriegerische Abenteuer zu stürzen. Deshalb hält es sich von Conflicten zurück, ja noch mehr, es hat in diesem Jahre eine entschiedene Annäherung an eine der Dreibundmächte, an Deutschland, vollzogen. Das erste Anzeichen hiefür war der Besuch des Großsürsten-Thronfolgers beim deutschen Kaiser in Wildpark am 11. Juli vorigen Jahres. Allerdings die alte Liebe zu Frankreich kam dadurch nicht ins Rosten, denn in den October desselben Jahres fällt der denkwürdige Besuch der russischen Flotte in Toulon, den wir bereits geschildert haben, und der eine Begeisterung hervorrief, vor deren Hitzegraden dem Czaren selbst etwas unheimlich zu Muthe wurde. Am 16. März dieses' Jahres wurde dann nach langen, diplomatischen Verhandlungen der deutsch-russische Handelsvertrag perfect, der wenigstens auf wirthschaftlichem Gebiete ein freundschaftliches Miteinandergehen der beiden Mächte verheißt. Zum zweiten Male finden wir den russischen Thronfolger in Deutschland am 19. April. Als

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