88 4 89 den modernen Pariser Dichtern, Laurent Tail- lade. Der gute Mann hatte gerne mit dem Anarchismus geliebäugelt und aus Anlaß des Attentates Vaillant's den frevelhaften Ausspruch gethan: „Was liegt an den Opfern, wenn nur die Geste schön ist!" Die Geste, die er im Restaurant Foyot dazu machte, war nichts weniger als schön: er wimmerte und jammerte zum Herzbrechen. Glücklicherweise war seine Verwundung nicht schwer; er vt bereits von ihr und vom Anarchismus gründlich curirt. Am 27. April begann der Proceß gegen den Bombenwerfer vom Hotel Terminus, Emile Henry. Er endete mit der Verurtheilung zum Tode. Henry trug bis zum letzten Momente einen Fanatismus und einen Cynismus zur Schau, der geradezu abscheuerregend wirken mußte. Bis zu seiner Hinrichtung, die am 21. Mai stattfand, verharrte, er in seinem wahnsinnigen Trotz. Kadi Harnot. In geradezu himmelschreiend entsetzlicher Weise zeigte sich aber die Riesenhöhe, zu der die anarchistische Propaganda der That gediehen war, am 24. Juni. Niemand geringerer, als das Oberhaupt der französischen Republik, Sadi Carnot, der tadellose, menschenfreundliche, als Politiker, wie als Mensch gleich hochachtungs- würdige Präsident fiel dem Wüthen des anarchistischen Wahnsinns zum Opfer. Es war ein Sonntag und Carnot weilte in Lyon, wo er durch den Glanz seiner Anwesenheit eure Ausstellungseröffnung einweihen sollte. Als er durch die Straße fuhr, schwang sich aus dem Gedränge der Menge ein zerlumptes Individuum auf das Trittbrett des Wagens und mit dem Rufe „Erviva la revoluzione“ bohrte es dem Präsidenten einen Dolch in den Leib. Tödtlich verwundet sank Carnot in die Kissen des' Wagens zurück. Eiligst brächte man ihn in Sicherheit, Aerzte wurden herbeigeschafft, die durch eine Operation das Leben des Allverehrten zu retten bestrebt waren — es war Alles umsonst. Nach mehreren Stunden qualvoller Schmerzen verschied der Präsident, aufis Tiefste beklagt von allen ordnungsliebenden Bürgern Frankreichs, herzlich bemitleidet von jedem fühlenden Menschen, welchem Staate auch immer derselbe angehören mochte. Als der Mörder sein blutiges Werk vollbracht hatte, suchte er rasch in der Menge zu verschwinden. Aber das erbitterte Volk erspähte ihn mit scharfem Blicke, faßte den Wütherich und schlug erbarmungslos auf ihn los. Er wäre wohl getödtet worden, wenn die Polizei nicht sein Leben geschützt hätte. Mit Mühe brächte man ihn in Gewahrsam. Er entpuppte sich als der Bäckergehilfe Giovanni Santo Caserio, ein italienischer Anarchist. Daß er ein Sohn der hesperischen Halbinsel war, das entfachte sofort in dem wenig überlegenden Volke der Franzosen einen, wüthenden Haß gegen alle Italiener, und wiewohl sowohl die regierenden Kreise, als auch die Bevölkerung des appenini- schen Königreiches ihrem tiefsten Abscheu gegen die Mordthat Caserio's beredtesten Ausdruck gaben, kam es doch zu den bedauerlichsten Ausschreitungen gegen Italiener, namentlich inLyon der Stelle des Mordes. Es zeigte sich aber bald, daß die Mordthat Caserio's nicht nationalen, sondern international- anarchistischen Motiven entsprungen war. In Cette hatte, wie sich herausstellte, eine anarchistische Versammlung getagt, welche den Tod des Präsidenten Carnot beschlossen hatte, und den halbwahnsinnigen Bäckergehilfen hatte das Los zum Vollstrecker des Mordplanes erkoren. Wie alle anarchistischeu Attentäter, so war auch er von einer fanatischen Begeisterung für seine „Ideale" durchdrungen. Zur Stunde, da dieser Bericht schließt, weilt er zwar noch unter den Lebenden, aber er ist ein todtgeweihter Mann. Groß war die Zahl der Beileidskundgebungen, die sowohl der Familie Carnots, als auch den officiellen Vertretern der Republik von allen Seiten zugingen. Der Kaiser von Oesterreich, der deutsche Kaiser und fast alle übrigen Herrscher sandten warm empfundene Beweise des Mitgefühls an die Angehörigen und an die Regierung, und als am 1. Juli die sterbliche ßastmir Hülle des ermordeten Präsidenten zur Bestattung ins Pantheon geführt wurde, war der Kranz, den Kaiser Franz Josef gespendet hatte, einer der prächtigsten in der riesengroßen Fülle der duftenden Liebesgaben. Drei Tage vor der Bestattung Carnot's, erhielt Frankreich einen neuen Präsidenten in der Person Casimir Pörier's. Ein gemäßigter, streng republikanischer Mann, ergreift in ihm das Ruder des Staatsschiffes, und da Porier die Bekämpfung des Anarchismus als seine Lebensaufgabe proclamirt hat, darf nicht nur Frankreich, sondern auch ganz Europa hoffnungsvoll der künftigen Thätigkeit dieses energischen Mannes entgegensehen. Kngtand. Das öffentliche Leben in England wurde in diesem Jahre von zwei Fragen beherrscht, von dein Kampfe um Homerule und von dem sich daraus ergebenden Kampfe der liberalen Majorität des Unterhauses gegen das Oberhaus. Gladstone, der die Durchführung der Home- rule-Vorlage zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, dringt schon zu Beginn des hinter uns liegenden Zeitabschnittes mit großer Energie auf die Erledigung dieser Frage im Unterhause, wo noch immer eine sehr heftige Opposition gegen den Gesetzentwurf herrschte. Mit wie großer Erregung der Gemüther bei. der ErMerier. örterung-dieser legislativen Aufgabe vorgegangen wurde, ist aus der Sitzung vom 27. Juli 1893 zu ersehen. In dieser machte Chamberlain einige scharfe Ausfälle gegen Homerule, welche bei den Anhängern der Regierung solche Erbitterung hervorriefen, daß das Haus der Gemeinen der Schauplatz der ernstesten Excesse wurde, welche schließlich in einen Faustkampf ausarteten. In dieser Zeit — es war am 18.. Juli — wurde London von einem argen Unglück heimgesucht. In der City brach eine Feuersbrunst aus, welche rasch um sich griff, so daß trotz aller augenblicklich getroffenen Rettungsvorkehrungen 26 Häuser verbrannten. Am 30 August endlich ging der innigste Herzenswunsch Gladstone's in Erfüllung. Das
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