Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

86 87 Erzählungen behandelte, aus der Sphäre jener nervenzerstörenden, schwülen Sinnlichkeit genommen waren, die in so vielen Erscheinungen des sinkenden Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. Guy de Maupassant, der im Leben wie im Dichten seinen Kräften allzuviel zuge- muthet hatte, starb im Wahnsinn. Ein schrecklicher Vorfall ereignete sich am 17. Juli zu Aigues - Mortes in Südfrankreich. In den dortigen Salinen wurden außer französischen Arbeitern auch Italiener beschäftigt, wodurch der Brotneid der Franzosen geweckt wurde. Da die ganze Gesellschaft aus ziemlich anrüchigen Elementen, vielfach aus entlassenen Sträflingen, bestand, so mußte der gegenseitige Haß sich in besonders roher und wilder Weise entladen. Es kam zü einem blutigen Zusammen- stoße zwischen Franzosen und Italienern, bei Mac Mahon. welchem 40 Personen getödtet und 26 verwundet wurden. So groß war die Wuth der Kämpfenden und die Ohnmacht der Polizei, daß die letztere nicht einmal die Verwundeten zu schützen vermochte; sie wurden in der grausamsten Weise vollends todtgeschlagen. Am nächsten Tage rotteten sich die Franzosen neuerdings zusammen, überfielen meuchlerisch die nichtsahnenden Italiener und tödteten abermals 12 derselben. Ein Ruf der Entrüstung ging durch ganz Europa und in Italien wuchs die Aufregung zu einem solchen Grade, daß vielfache Ruhestörungen vorkamen. Aber noch höher schwoll die Empörung in der ganzen civilisirten Welt, als die angeklagten Franzosen vor dem Schwurgerichte in Angouleme treigesprochen wurden. Die französische Justiz hat durch diesen Willkürakt einen unauslöschlichen Makel auf sich geladen. Am 12. September starb der Chef des französischen Generalstabes, General de Mi- ribel, einer der fähigsten unter den französischen Generalen, der als Reorganisator des Generalstabes seinem Vaterlande nicht zu unterschätzende Dienste geleistet hatte. Mit dem. 13. October brach für Frankreich eine Reihe von glänzenden Festen an, in welchen sich die Russomanie der Franzosen in der lärmendsten und überschwänglichsten Weise äußerte. Der schon lange vorher angesagte und mit fieberhafter Ungeduld erwartete Besuch einer russischen Flottenescadre unter Admiral Ave- lane traf an diesem Tage ein. Es ist schwer, den Begeisterungstaumel zu schildern, von dem das ganze Volk ergriffen wurde. Von einem Ball zum anderen, von einem Festessen zum anderen wurden die Russen geschleppt, Triumphbögen^ Auszüge, Reden, in denen die Russenver- ehrung die absonderlichsten Blüthen trieb, wechselten miteinander ab, Bruderschaften zwischen den beiderseitigen Osficieren und Matrosen wurden geschlossen. Der Begeisterungsrausch erreichte seinen Höhepunkt, als die Russen von Toulon nach Paris kamen. Eine förmliche Industrie entstand, welche Souvenirs und Sächel- chen, die auf den Ruffenbesuch Bezug hatten, in Massen fabricirte und absetzte, man aß nur russische Speisen, trank nur russische Schnäpse, trug russische Costüme, kurz man war russischer, als die Russen selbst. An demselben Tage, an dem die Russen nach Paris kamen, am 47. October, starb auf seinem Schlosse Lasoret Mac Mahon, Herzog von Magenta, im 90. Lebensjahre. Er führte seinen Namen nach den Lorbeeren, die er sich im Jahre 1869 bei Magenta geholt und galt Geschoß auf die Brüstung der Gallerie auffiel und sich hier entlud. Nun forschte man nach dem Thäter, von dem man annahm, daß er sich unter den Verwundeten befinde. Er wurde thatsächlich in einem Manne erkannt, der eine leichte Verwundung im Gesichte hatte. Er nannte sich Vaillant, wurde in Haft gethan und gestand auch unter den üblichen anarchistischen Tiraden, daß er der Thäter sei. Ja, er rühmte sich, wie es in der fanatischen Art dieser Leute liegt, noch seiner That und zeigte keine Spur von Reue. Am 10. Jänner wurde chm der Proceß gemacht und er zum Tode verurtheilt, am 6. Februar endete er unter der Guillotine. Schon eine Woche darnach wurde Paris abermals durch eine Bombenkatastrophe in Schrecken versetzt. Ein Anarchist schleuderte am 12. Februar eine Bombe in das Restaurant des Hotels Terminus, das gerade von zahlreichen Gästen besucht war. Viele der Anwesenden wurden verwundet. Man eruirte als den Schuldigen den Anarchisten Emil Henry, einen blutjungen Menschen. Die bei ihm vorgenommene Hausdurchsuchung lieferte Documente zu Tage, welche die Zugehörigkeit Henry's zur anarchistischen Partei außer Zweifel stellten. Auch dieser Bursche that sich auf seinen Frevel außerordentlich viel zu Gute und gab, anstatt nach Entschuldigungsgründen für seine That zu suchen, den Richtern gegenüber die bekannten wahnwitzigen Declamationen der Anarchisten zum Besten. Wieder acht Tage später, am 20. Februar, explodirte in einem Hotel der Rue Saint- Jacques eine neue Bombe, die am Eingänge eines Hotelzimmers derart aufgehängt war, daß sie sich beim Oeffnen der Thüre entladen mußte. Die Hotelbesitzerin Madame Calabresi und zwei andere Personen wurden verletzt Und an demselben Tage wurde auch im Hotel „Esperanee" in der Rue Faubourg Saint Martin eine Bombe gelegt, die jedoch rechtzeitig bemerkt und unschädlich gemacht wurde. Eine große Zahl von Hausdurchsuchungen bei verdächtigen Persönlichkeiten wurde infolge dessen eingeleitet, durch welche am 6. März thatsächlich nicht weniger als siebzehn Anarchisten der Polizei in die Hände geliefert wurden. Am 16. März war wieder eine Bomben - explosion. Vor dem Thore der Madeleine-Kirche schleuderte ein belgischer Anarchist das todt- bringeydeProjectil. Aber es brächte nur ihm selbst den Tod. Er wurde durch die furchtbare Gewalt des Sprengmittels förmlich zerrissen, während sonst Niemand eine Verwundung davontrug. Noch immer kein Ende! Der 4. April war ein neuer Schreckenstag. Diesmal war das Restaurant Foyot, gegenüber dem Sauitäts- gebäude, der Schauplatz des Attentates. Wieder wurden mehrere Gäste des Restaurants verwundet, unter ihnen einer der jüngeren von trotz seiner Niederlage bei Wörth im Jahre 1870, für einen der tüchtigsten Feldherrn seiner Zeit. Nach Thiers lenkte er durch mehrere Jahre als Präsident die Geschicke der französischen Nepublick; in ihm war ein Stück französischer Geschichte verkörpert. Am Tage vorher starb Einer, der zwar nicht auf der Höhe der Macht stand, aber doch unendlich viel zum Ruhme seiner Nation gewirkthatte, der Tondichter Charles Gounod. Am 17. Juni 1818 geboren, hatte er sich nach äußerst sorgfältiger künstlerischer Ausbildung zu einem der größten Opern-Componisten emporgeschwungen. Er war kein Anhänger der modernen, dramatisch charakterisirendenRichtung, sondern eines von den gottbegnadeten Talenten, denen der sinnliche Wohllaut der Musik und die zarte Empfindung in Tönen unerschöpflich und unveisieglich fließt. Seine Hauptwerke „Margarethe" und „Romeo und Julia" sind heute nach Gemeingut aller großen Opernbühnen, außerdem hat er aber auch Bedeutendes auf dem Gebiete der geistlichen Musik geschaffen. Sein populärstes Werk auf diesem Gebiete ist wohl das „Ave Maria“, das er mit Benützung eines Bach'schen Präludiums componirt hat. Am 16. November erfolgte die Ernennung Lozö's zum Botschafter der französischen Republik am Wiener Hofe. Der 16. November ist das Datum, mit welchem eine ganze Serie von anarchistischen Attentaten eingeleitet wurde. An diesem Tage explodirte eine Bombe -vor dem Gebäude der Kommandantur in Marseille, ohne jedoch Schaden an Menschenleben zu verursachen. Eine Reihe von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen war die Folge des Attentates. Das war das Vorspiel, die Tragödie sollte bald folgen. Am *9. December, während einer Sitzung der Deputirtenkammer, warf plötzlich ein Unbekannter eine Bombe in den gefüllten Saal. Ein furchtbarer Krach ertönte und im nächsten Augenblicke wälzten sich zahlreiche Verwundete in ihrem Blute. Der Schreck und die Verwüstung waren unerhört. Die Thore des Hauses wurden sofort geschlossen, um den Thäter am Entkommen zu hindern, und als die Besonnenheit halbwegs wiedergekehrt war, trug man die Verwundeten — Deputirte und Zuschauer — aus dem Sitzungssaale, bettete sie in den Nebenraumen auf Matratzen und holte Aerzte herbei. Es zeigte sich, daß man im ersten Schrecken das Unheil überschätzt hatte. Mit Ausnahme eines Deputirten, der seinen Verletzungen erlag, waren die meisten nicht schwer verwundet. Die Bombe, die man nachher fand, hatte die Form eines eisernen Topfes, der mit Sprengmässe gefüllt war, in welche eine Menge Nägel eingebettet waren. Der Wurf, der von einer Loge der Gallerie geführt wurde, wäre viel verderblicher gewesen, wenn die Bombe unten im Saale explodirt wäre; der Bombenwerfer aber war ungeschickt, so daß das

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