Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

84 * 85 vermählte sich mit dem Großherzog Ludwig von Hessen und eine große Zahl festlicher Gäste hatte sich eingefunden, um bei der Knüpfung des glückverheißenden Bundes zugegen zu sein und dem jungen Paare die besten Wünsche für die Zukunft zu spenden. Am 15. Mai starb nach längerer Krankheit Kurt v. Schlözer, der ehemalige vertrauliche Gesandte Deutschlands am päpstlichen Hofe. Schlözer war eine als Beamter, Diplomat und Gelehrter gleich hervorragende Persönlichkeit; ihm gebührt zum größten Theile das Verdienst, daß die Beziehungen zwischen Deutschland und dem Vatican sich so freundlich gestalteten, wie sie es noch heute sind. Am 13. Februar starb zu Kairo in Egypten einer der bedeutendsten Musiker aller Zeiten, Hans Hroßherzog Hrnst Ludwig von Kessen und Prinzessin Victoria Melitta von Kachsen-tzoburg, v. B ü lo w. Er war nicht so sehr ein schaffendes, als vielmehr ein auslegendes Genie, er wirkte nicht durch seine Compositionen, sondern durch die denkbar feinste und geistvollste Wiedergabe der Werke anderer Meister, sowohl am Dirigentenpulte, als auch am Clavier. Er war der Erste, welcher der Wagnerischen Richtung zur Geltung verhalf, wenn er sich auch in seinen letzten Lebensjahren derselben gegenüber etwas kühler verhielt. Bülow war eine empfindliche, nervöse, stachelige Natur, die durch ihre unberechenbaren Stimmungen und malitiösen Bemerkungen oft belustigte, öfter noch berechtigtes Aergerniß hcr- vorries. Er hatte in Kairo Heilung eines länger währenden Leidens gesucht und dort überraschte ihn der Tod Am 19. Februar erwiderte Kaiser Wilhelm dem Fürsten Bismarck seinen Besuch in Friedrichsruhe, und brächte den ganzen Tag im Hause und in der Familie des Fürsten zu. Der enthusiastische Jubel, mit dem er überall auf der Reise wie bei der Ankunft begrüßt wurde, galt nicht nur seiner Person, sondern auch seinem chochherzigen Entschlüsse. Am 13. März reiste die Kaiserin nach Abbazia. „Es ist wegen der Jungens," sagte der Kaiser, „damit sie sich an der warmen und doch kräftigen Seeluft erfrischen." Der Kaiser selbst wurde vorerst noch durch wichtige Geschäfte zürückgehalten. Die Volksvertretung stand vor einer bedeutungsvollen Aufgabe; ihr lag der deutsch-russische Handelsvertrag zur Prüfung und Annahme vor. Nach langen diplomatischen Verhandlungen, denen eine zunehmende Besserung des politischen Verhältnisses zwischen beiden Staaten und des persönlichen Verhältnisses zwischen beiden Herrschern vorangegangen war, wurde dieses wirtschaftliche Bündniß zu Stande gebracht, als ein neues Glied in der Kette der Bestrebungen, dauernden Frieden und Eintracht der Völker in Europa zu erhalten. Am 16. März erfolgte dünn auch thatsächlich die Annahme des Vertrages. Jetzt erst konnte sich der Kaiser Ferien gönnen und auch in dem nervenstählenden Hauche der Adria, inmitten seiner Familie, mehrere Wochen der Erholung genießen. Ein Fest, welches neuerdings die erhebende und siegende Gewalt des nationalen, Gedankens in glänzender Weise bethätigte, war das eilfte deutsche Bundesschie.ßen, das am 17. Juni seinen Anfang nahm. Wo immer deutsch sprechende und die Feuerwaffe meisternde Männer wohnen, wurde die Kunde von dieser erhabenen Wehr- haftigkeitsfeier mit Begeisterung vernommen und nach vielen Tausenden- strömten die Männer, die „Herz und Hand für's Vaterland" üben, nach Mainz, um dort theils ihre Geschicklich- keit zu erproben, theils das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller deutschen Männer Kaus v. Mütow. auf's Neue zu beleben. Ein farbenprächtiger Festzug, der zum Theile denkwürdige Momente der deutschen Vergangenheit, zum Theile symbolische Darstellungen aller männlichen und wehrhaften Bethätigungen deutschen Mannes- muthes vorsührte, leitete das Fest in der glanzvollsten Weise ein. Der frohe Verlauf entsprach dem glänzenden Beginne. Arankreich. Wenn Deutschland in dem vergangenen Jahre als Typus der Festigkeit und Ruhe gelten konnte, so bietet Frankreich im Gegensatze hiezu ein Bild beständig durcheinander fluthender und drängender Elemente, die sich zu einem stetigen, ruhenden Gebilde gestalten möchten und doch nicht können. Immerwährend wogt der Streit der Parteien und ein Cabinet kann von Glück sagen, wenn es auf eine Regierungsdauer von einem halben Jahre kommt. Auch das heurige Jahr hat wieder eine erkleckliche Anzahl von Cabinetskrisen und Cabinetsbildüngen gesehen, ohne daß eine Stabilität der innerpolitischen Verhältnisse erzielt werden konnte. Es ist fast nutzlos, alle die Ministerlisten aufzuzählen, die im Laufe des Jahres aufeinander folgten, denn keines der vergangenen Cabinete hat bleibende Spuren hinterlassen. Schlimmer vielleicht als in irgend einem der vergangenen Jahre wurde Frankreich diesmal von der Anarchistenpest heimgesucht. Ein Bomben- attentat folgte dem anderen, im Parlament, in der Kirche, in Hotels, in Restaurants flammte die Höllenmaschine der Wütheriche auf, - oft unendliches Elend und panischen Schrecken verbreitend. Zwei dieser Scheusale wurden Heuer in Frankreich hingerichtet, einer durch sein eigenes Geschoß getödtet und eine Anzahl Anderer blieb leider unentdeckt. Und das Schlimmste ist, daß diese Seuche auch in andere Länder übergreist, so daß es hoch an der Zeit wäre, wenn die Mächte sich zu einem einheitlichen und energischen Vorgehen gegen diesen Schandfleck des Jahrhunderts vereinigen würden. Eines wie lächerlich geringen Anlasses es oft bei den Franzosen, und speciell bei den Parisern bedarf, eine Unruhe von beängstigenden Dimensionen hervorzurufen, beweist ein Vorfall der an der Schwelle des Zeitraumes steht, den wir zu betrachten haben. Im Juni des vorigen Jahres hatte eine Gesellschaft von Künstlern und Studenten unter dem Titel von lebenden Bildern Schaustellungen der obscönsten Art, allerdings für einen beschränkten Zirkel verunstaltet. Gegen diese Veranstaltungen nahm der greise Senator B er an g er im Senat in sehr scharfer Weise Stellung. Das genügte, um einen förmlichen Aufruhr in Paris hervorzurufen. Am 3. Juli zogen die Studenten mit Johlen und Pfeifen vor die Wohnung des Senators und beunruhigten ganze Stadttheile durch ihr wüstes Treiben, so daß die Polizei einschreiten mußte. Noch ärger ging es am nächsten Tage zu. Da die Tumultuanten das neuerliche Ejnschreiten der Polizei voraussehen mußten, begannen sie damit, Kioske und Ankündigungssäulen umzustürzen, Omnibusse zu demoliren, das Straßenpflaster aufzureißen und Barrikaden zu bauen. Der Conflict mit der Polizei nahm an diesem Tage solche Dimensionen an, daß die Revolte mit Waffengewalt niedergeschlagen wurde und an 300 Verwundete vom Platze geschafft wurden. Damit hatte der Rummel sein Ende erreicht. Am 6. Juli wurde die Arbeiterbörse, die in diesen Tumulten eine wenig rühmliche Rolle gespielt hatte, behördlich gesperrt. Am 6. Juli starb einer der begabtesten jüngeren Schriftsteller Frankreichs, Guy de Maupassant. Er war ein hervorragendes Talent, das an Grazie der Darstellung nicht leicht erreicht werden dürfte, es ist nur zu bedauern, daß die „Probleme", die er in seinen

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