Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

82 83 fessor Schweninger, in welcher der Kaiser anordnete, daß ihm beständig und fortlaufend über das Befinden des Fürsten Bismarck Bericht erstattet werde. Eine Zeitlang wurde die Aufmerksamkeit der Völker durch anderweitige Ereignisse von diesem Schauspiele abgelenkt. Am 19. October trat General v. Kaltenborn 'von der Leitung des Kriegsministeriums zurück und an seine Stelle trat General Bronsart v. Schellen- dorf. Dann kam das 60jährige Militärjubiläum des Königs Albert von Sachsen, aus welchem Anlaß sich eine große Anzahl von fürstlichen Gästen in Dresden Rendezvous gab. Unser Kaiser, dessen ältester persönlicher Freund der König von Sachsen ist, durste in der Reihe der Glückwünschenden nicht fehlen, und da er Kürst Aismarck in Merlin. selbst durch Regierungsgeschäfle verhindert war, an dem Feste thcilzunehmen, entsandte er als seinen Stellvertreter und Ueberbringer seiner Freundesgrüße, den Doyen des kaiserlichen Hauses, Feldmarschall Erzherzog Albrecht, der mit großen Ehren empfangen und zum Chef des 4. sächsischen Infanterieregimentes ernannt wurde. Im Jänner des Jahres 1894 lebte die Freude über die Annäherung zwischen Kaiser und Altreichskanzler neu- auf. Fürst Bismarck war neuerlich an dir Influenza erkrankt und als er sich wieder auf dem Wege der Besserung befand, sandte Kaiser Wilhelm seinen Flügeladjutanten v. Moltke nach Friedrichsruhe, um den Fürsten zu seiner Genesung zu beglückwünschen und ihm als sinniges Freundschafts- zeichen eine Flasche edlen alten Weines zu überreichen. Das war am 23 Jänner. Schon ani 24. Jänner verbreitete sich die Nachiicht, daß Füist Bismarck dem Kaiser in Berlin einen Besuch abstatten werde, und schon der 26. Jänner brächte die Bestätigung dieser Nachricht. Fürst Bismarck zog in Berlin ein wie ein Triumphator. Auf dem Bahnhöfe erwartete ihn der Bruder des Kaisers, Prinz Heinrich, und geleitete ihn durch die Stadt in das königliche Palais, wo eigene Appartements für den Besuch hergerichtet wurden. UngeheuereBolksmassen hatten sich in den Straßen angesammelt um den Allverehrten zu begrüßen, ein brausender Schwall von Jubelrufen erhob sich, so daß der alte Kanzler nicht genug thun konnte mit Grüßen und Danken. Während des ganzen Aufenthaltes bewegte sich der Fürst nur im Schoße der kaiserlichen Familie. Am Abend desselben Tages begleitete der Kaiser selbst seinen Gast nach dem Bahnhöfe, küßte und umarmte ihn zum Abschiede nuss herzlichste. Als Gastgeschenk erfuhr der Fürst seine Ernennung zum Chef des 7. Kürassierregimentes. Am 1. Februar aber setzte der Kaiser seinem großmüthig freundschaftlichen Benehmen gegen den Fürsten Bismarck die Krone auf. An diesem Tage dankte er in einem öffentlichen Erlasse für alle Glückwünsche und Loyalitätsbezeugungen, die ihm aus Anlaß seines Geburtstages zugegangen waren und sprach gleichzeitig der Bevölkerung seinen besonderen Dank auch für den seinem Gaste, dem Fürsten Bismarck, 511 Theil gewordenen herzlichen Empfang aus. Der 1. April, als Geburtstag Bismarck's, ist schon längst eine Art Nationalfeiertag der Deutschen geworden. Um wie viel mehr mußte er Heuer den Charakter erhalten! Vielleicht noch nie war die Menge der Gratulationen, Briefe, Telegramme, Geschenke und Blumengrüße so groß gewesen, wie diesmal, da auch der ängstlichste und Heimlichste Verehrer des großen Mannes nicht zu fürchten brauchte, gegen die Loyalität dem Kaiser gegenüber zu verstoßen. Auch der Kaiser selbst fehlte natürlich nicht unter den Gratulanten und übersandte durch seinen Flügeladjutanten als Geburtstagsangebinde einen kunstvollen Küraß mit Epaulettes und Bandeliöre. Am 16. April starb in Rom Adolf Graf Schack, einer der bedeutendsten unter den neueren deutschen Dichtern. Gras Schack, durch dessen Dichtungen ein idealer, frei- geistiger Zug ging, war ein besonderer Meister der Form, der in der tadellos feinen und sorgfältig ciselirten Art seiner Verse vielfach an Platen erinnerte. Vielleicht noch höher als seine Dichtkunst stand seine Uebersetzungskunst; er hat eine große Zahl von Meisterwerken romanischer Dichter, namentlich aber spanische und italienische Dichtungen, mit großer Meisterschaft und treuer Wahrung des originalen Colorits ins Deutsche übertragen. Graf Schack besaß in München, wo er zu Hause war, ein fürstlich eingerichtetes Palais mit einer Bilder- gallerie, die zu den ersten Sehenswürdigkeiten Die kaiserliche Kamille in Avvazka. von München zählt. Diese berühmte Gallerie vermachte Graf Schack testamentarisch dem Kaiser Wilhelm. Zur großen Beruhigung der Münchner verfügte der Kaiser aber, daß die Schacklche Gallerie in München zu verbleiben habe. Am 18. April schied der deutsche Botschafter am Wiener Hofe, Prinz Reuß, aus seinem Amte, das er durch eine lange Reihe von Jahren mit Geschick und Treue ausgefüllt hatte, und Graf Enlenburg trat an seine Stelle. Um das herzliche und unzertrennlich innige Freundschaftsbündnis; der beiden Staaten und ihrer Herrscher hat sich Prinz Reuß in seinem Wirkungskreise manches Verdienst erworben und nur ungern sah man ihn von Wien scheiden. Am 19. April fand in Coburg eine Reihe glänzender Hoffestlichkeiten statt. Prinzessin Victoria Melitta von Sachsen-Coburg 6*

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