Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

80 81 diesem Zeitraume durch die Einbringung und Vo- tirung der Militärvorlage Rechnung getragen. Nicht mühelos wurde dieses Gesetz durchgebracht. Eine starke Opposition, sowohl in den Vertretungskörpern, wie in der Bevölkerung, war dagegen, und der Kaiser selbst mit seinem energischen Naturell und seiner immer treffenden Beredtsamkeit griff oft persönlich ein, um der Vorlage, die er für die Wohlfahrt des Vaterlandes für unerläßlich hielt, zur Annahme zu verhelfen. Thatsächlich gelangte das hochwichtige Gesetz noch im Juli 1893 zur Annahme. Noch vor Abschluß dieser gesetzgeberischen Arbeit erhielt der Kaiser einen politisch hoch- bedeutsamen Besuch. Der Großfürst-Thronfolger von Rußland kam am 11. Juli in Wildpark an und wurde mit warmer Herzlichkeit vom Kaiser Wilhelm und mit ehrfurchtsKerzog Hrnst Alfred von Kachserr- tzoöurg-Kotha. voller Achtung von der Bevölkerung empfangen, die in dem Besuche des Czarewitsch ein nicht zu unterschätzendes neues Symptom der wachsenden Freundschastlichkeit in den Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland erkannte. Am 22. August starb in Coburg Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha, einer von jenen deutschen Bundesfürsten, die sich die größten Verdienste um die Einigung Deutschlands erworben haben. Herzog Ernst, der in seiner äußeren Erscheinung stark an Napoleon III. erinnerte, war nicht nur ein gewissenhafter und hochbeliebter Regent, sondern auch ein Schriftsteller, der vielbeachtete und vielgelesene Memoiren schrieb, gerne auf dem Gebiete der Dichtkunst Lorbeeren pflückte und neben den bildenden Künsten besonders der Musik huldigte. Erst im vorigen Jahre fand in Coburg eine Preisbewerbung von Operncomponisten statt, bei welcher unser Landsmann Förster mit seiner „Rose von Pontevedra" den ersten Preis davontrug. Ernst von Coburg war eine selten ausgeglichene, sympathisch berührende Persönlichkeit, ohne Tadel noch Vorurtheil. Ihm folgte in der Herrschaft Herzog Alfred. Einen zweiten ebenso wichtigen als erfreulichen Besuch erhielt Kaiser Wilhelm am 1. September. Der Kronprinz, von Italien besuchte den deutschen Kaiser in Berlin. Eine Reihe rauschender Festlichkeiten gab Zeugniß von der Herzlichkeit der Beziehungen zwischen Deutschland nnd dem verbündeten Italien, und mit brausendem Jubelruf bekräftigte die Bevölkerung Berlins ihre Antheilnahme an dem un- geschwächten Bestände des Freundschaftsbundes der Fürsten. Eine besonders freudige Ueberraschung sollte aber dem deutschen Volke noch in diesem Monate werden. Fürst Bismarck war schwer erkrankt. Mit Bangen horchte man auf Nachrichten aus Friedrichsruhe; wurde doch Jedem, auch Jenen im deutschen Volke, welche die letzten Ereignisse dem Fürsten einigermaßen entfremdet hatten, in diesem Augenblicke doppelt klar, daß das Leben des größten Deutschen, des Begründers der deutschen Einheit, auf dem Spiele stehe. Um so schmerzlicher berührte alle Herzen in diesen Tagen das Gefühl, daß zwischen dem jetzigen Beherrscher Deutschlands und dem ersten Rathgeber seines Großvaters eine tiefe Kluft war, auf deren Ueberbrückung Niemand zu hoffen wagte. Da durchzuckte wie ein Freudenfeuer ganz Deutschland eine unerwartete Nachricht. Der Kaiser, ^der eben damals als Gast des Kaisers von Oesterreich bei den Manövern in Güns weilte, habe eine Depesche an den Fürsten Bismarck nach Friedrichsruhe gesendet, in welcher er seiner warmen Antheilnahme an der Nrinz Alfred von Sachsen-Koöurg-Hotl-a Erkrankung, sowie den herzlichsten Wünschen für die baldige Genesung des Fürsten Ausdruck gab. Gleichzeitig lud er denselben ein, während seiner Reconvalescenz auf einem der kaiserlichen Schlösser Aufenthalt zu nehmen. Bismarck dankte sofort Henerat ZZronsart v. Schellendorf. telegraphisch, lehnte dagegen das Anerbieten bezüglich des Reconvalescentenaufenthaltes mit Berufung aus die Anordnungen seines Leibarztes Dr. Schweninger dankend ab. Wie ein Jubelruf scholl es durch ganz Deutschland, daß nunmehr die Scheidewand gefallen, war, welche zum Schaden des Reiches den höchsten Deutschen von dem größten Deutschen getrennt hatte. Es wurde damals sehr lebhaf die Vermuthung ausgesprochen, daß der Einfluß Kaiser Franz Jofes's diese glückliche Wendung herbeigeführt habe. Sei dem, wie ihm wolle, genug, sie war einmal geschehen, und die gänzliche Aussöhnung konnte nur mehr eine Frage der Zeit' sein. Bald folgte der zweite Schritt. Am 4. October erging eine Cabinetsordre an Pro6

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