Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

76 77 das Jahrhundert wieder einen Mann von gleicher geistiger Grö^e gebiert. Im Februar begann vor dem Wiener Schwurgerichte ein großer Proceß gegen 14 Anarchisten. Am 22. September war nämlich von der Wiener Polizei die Entdeckung gemacht worden, daß in der Wohnung der Arbeiter Haspel und Hanel in Margarethen eine geheime Druckerei etablirt sei. Sie hoben das Nest aus, arretirten die beiden Arbeiter und fanden in ihrer Wohnung thatsächlich eine primitive Buchdruckmaschine, die durch ein Ledersopha maskirt war, einen Setzkasten in einem Tische verborgen, mehrere anarchistische Flugblätter und endlich Metallbestandrheile, Blechhülsen, Glasballons, welche anscheinend zur Herstellung von Sprengkörpern dienen sollten, sowie etwas Dynamit. Schon in den nächsten Tagen wurden mehrere der Mitschuld verdächtige Arbeiter eingezogen, und am 19. Februar fand die Verhandlung gegen die 14 Schreckensmänner wegen Hochverraths und der Uebertretung des Sprengstoffgesetzes statt. Acht der Angeklagten wurden zu mehrjähriger Kerkerstrafe verurtheilt: Haspel zu 10 Jahren, Hanel zu 8 Jahren,. sechs der Angeklagten wurden freigesprochen. 'Unter den Verurtheilten befand sich auch Einer, namens Modraeek, der auch im Präger Omlavina- Proceß eine Kerkerstrafe davongetragen hatte. Zwei Tage nach diesem Processe bewegte eine neue Sensationsaffaire die Gemüther der Wiener. In der Staatsschuldencasse wurde eine Defraudation in größtem Style entdeckt. Der Cassier Adolf F er lös, eine namentlich bei den Veteranenvereinen, denen cr sehr viel Zeit und Mühe widmete, bekannte Persönlichkeit, hatte es verstanden, im Laufe mehrerer Jahre dem Institute, dem er diente, 100.000 st. zu defrau- diren. Als er sich entdeckt sah, entfloh er, und erschoß sich am nächsten Tage im Prater. Auch der von ihm geleitete Veteranenverein wurde von ihm um eine hohe Summe bestohlen. Am 26. Februar starb plötzlich während eines Ausfluges der erste Bürgermeister des vergrößerten Wien, Dr. Johann N. Prix, an einem Herzschlage. Er hatte eine heftige Opposition im Gemeinderathe gegen sich und verstand es nicht, auf bestehende Gegensätze mildernd und versöhnend einzuwirken; aber selbst seine Gegner erkannten seine ungeheure Arbeitskraft und eiserne Energie, die ihm den, bald im Ernst, bald im Spott gebrauchten Beinamen „der eiserne Bürgermeister" verschafften. Am 12. März starb der österreichische Dichter . Ludwig August Frankl. Er war jüdischer Ab- kunst und zuerst Arzt, dann Secretär der israelitischen Cultusgemeinde.- Ihn zierte Wohlthätig- keilssinn und die Gedichte, die er zum Preise Oesterreichs geschrieben, haben in manchem jungen Herzen den Keim der Vaterlandsliebe gekräftigt. Der 13. März brächte eine neue hocherfreuliche Bethätigung des innigen Freundschaftsverhältnisses zwischen Oesterreich-Ungarn und Deutschland. Die deutsche Kaiserin langte mit sämmtlichen kaiserlichen Prinzen in Abbazia an der österreichischen Riviera an, um in dem erfrischenden Hauche der Adria und im Schatten der Lorbeerhaine Erholung zu suchen; mit ungeheuerem Jubel wurde die Kaiserin emvfangen; dieser Jubel steigerte sich, als am 20. März auch Kaiser Wilhelm seiner Familie folgte, und er erreichte seinen Gipfel, als Kaiser Franz Josef am 29. März seinen erlauchten Gast in Abbazia besuchte und man die beiden kaiserlichen Freunde im Sonnenglanze des österreichischen Südens mit einander lustwandeln sah. In diese Zeit fällt die Wahl des Nachfolgers Dr. Prix', die nach mancherlei Fährlich- keiten und Zwistigkeiten der Parteien auf den bisherigen zweiten Vicebürgermeister, Dr. Raimund Grübl, fiel. Ar. Raimund Grübt. Am 20. März starb im Exil zu Turin der ehemalige Dictator von Ungarn, Ludwig Kossuth. Große Trauer erhob sich in Ungarn und besonders in Budapest um diesen Mann, den die Ungarn als den Begründer ihrer politischen Freiheit betrachten. Die Budapester Gemeinderepräsentanz beschloß sofort, die Leiche aus Kosten der Stadt nach Budapest überführen und dort beerdigen zu lassen. Die Bevölkerung erging sich in den erregtesten Beweisen der Trauer um den vielverlästerten, aber auch hochgepriesenen Mann, sie durchzog am 22. März die Straßeu, eine Schaar Studenten drang in das königliche Opernhaus ein und erzwäng mit Gewalt die Einstellung der Vorstellung; es kam zu Conflicten mit der Polizei, die den Umzug nicht dulden wollte, und endlich zu ernsten Zusammenstößen. Noch schlimmer gestalteten sich die Dinge am nächsten Tage. Die lärmenden Straßenauf- züge wiederholten sich, allen Bewohnern der Stadt, die keine Trauerfahnen ausgesteckt halten, wurden die Fenster eingeschlagen, der Tumult steigerte sich in einer Weise, daß Militär aufgeboten werden mußte. Die Bevölkerung und das Militär stießen aufeinander, die Soldaten mußten Feuer geben und zahlreiche Demonstranten werden verwundet. Am 30. März wurde unter ungeheuerem Zudrang die Leiche Kossuth's aufge- bahrt und am 2. April fand das Leichenbegäng- «Ludwig niß statt. Die Mitglieder des Cabinets, die demselben ferne blieben, hatten deshalb manche Anfeindung zu bestehen. Indessen ging es in Wien gerade auch nicht sehr ruhig zu, denn eine sehr ausgedehnte Strike- bewegung nahm ihren Anfang. Am 14. März brach der Tramwaystrike aus, der sofort von lichtscheuem Gesindel mißbraucht wurde, um durch Angriffe auf vorüberfahrende Tramway- ^aggonsargeExcessehervorzurufen; am29.März stellten die Arbeiterin den Gaswerken ihre Arbeit bin, so daß Wien eine Zeit lang von der Ge- mhr bedroht war, ohne Licht zu bleiben; am April begann der Bauarbeiterstrike, der solche Ausschreitungen mit sich brächte, daß die Polizei dem Revolver einschreiten mußte und zwei Passanten verwundet wurden. Während dieser Zeit, am 6. April, starb in Prag der Führer der Deutschen in Böhmen, Dr. Franz Schmeykal, ein Mann, dessen makllosen Charakter auch seine Gegner rückhaltlos anerkannten. Am 13. April verließ Kaiser Wilhelm Abbazia und begab sich zunächst nach Wien. Da alle Empfangsfeierlichkeiten verboten waren, fand die Bevölkerung keine Gelegenheit, durch rauschende Ovationen den erlauchten Gast zu ehren. Kaiser Wilhelm stattete der Officiers- messe seines Husarenregimentes in der Josefstädter Reiterkaserne einen Besuch ab und nahm mit dem Osficierscorps das Frühstück., Immer wieder lodert in Prag der Streit um die Straßentafeln auf. Am 18. April fand im Schoße des Stadtverordneten-Collegiums ein veritabler Krawall statt, der bald in eine Kossuth. Prügelei ausgeartet hätte, und am 8. Mai beschloß der Stadtrath, alle deutschen Straßentafeln, die von deutschen Hausbesitzern an ihren Häusern angebracht wurden, herabnehmen zu lassen. Einige ausgewachsene Straßentumulte waren die Folge davon. Die Statthalterei sistirte diesen Beschluß. Die endgiltige Austragung dieses hitzigen Streites.ist bis heute noch nicht erfolgt. Indessen war am 20. April in dem traditionellen Ausstellungsgebäude, in der Rotunde, zu Wien, eine vom „Verein zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse" veranstaltete Ausstellung eröffnet worden, welche ein anschauliches Bild von dem gegenwärtigen Stande einiger hochwichtigen Zweige der socialwisfenschaftlichen Erkenntniß geben sollte. Volksernährung, Lebens-

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2