Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

66 67 ist der Bürgerkrieg emporgelodert. Erbitterter als je blicken die Elenden auf die Mächtigen, die Armen auf die Reichen, die Arbeiter auf ihre Herren, Forderungen und Weigerungen werden laut, die Arbeit stockt, die Gewalt erhebt ihr Haupt und rottet die Enterbten zu wilden Haufen auf der Straße zusammen. Die Hüter der gesetzlichen Ordnung können dem Treiben nicht müßig zusehen, sie suchen die Haufen zu zerstreuen. Die Empörung wächst, es fliegen Steine, es fallen Stockschläge, die bewaffnete Macht greift zum Gewehr — und so haben wir das Entsetzliche geschehen sehen, daß das Militär des Staates todtbringende Schüsse auf die Bürger desselben Staates, auf die Unterthanen desselben Herrschers abfeuert. Wo ist die Lösung, wo ist das Heil? Die Staatsgewalt bemüht sich wohl, das Los der Elenden zu verbessern und die Gegensätze auszugleichen, aber kann sie alles Bestehende Umstürzen und eine neue Ordnung der Dinge schaffen? Nur allmälig wird sich aus diesem Chaos eine neue friedlichere und glücklichere Gemeinschaft der Menschen entwickeln und bis dahin gibt es nur ein Mittel, die steigende Begehrlichkeit zu zügeln, die wachsende Ungeduld zu bändigen; das ist die Kräftigung des Pflichtbewußtseins und die Pflege der christlichen Nächstenliebe. Von einem großen Schreckniß, das im vorvergangenen Jahre so zahlreiche Opfer forderte, ist im letzten Jahre Europa im Ganzen und Großen verschont geblieben: von der asiatischen Cholera. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, dürfte auch der heurige Sommer vorübergehen, ohne daß die verheerende Seuche ihr Wüthen neuerdings entfesselt. Es gibt ja der Noth und der Schmerzen genug, wir können solcher unheilvollen Gäste wahrlich entbehren. In Oesterreich ist das öffentliche Leben, abgesehen von der socialistischen Bewegung, in ruhigere Bahnen eingetreten. Dank der Weisheit unseres Monarchen, der es verstanden hat, eine Regierung zusammenzusetzen, in welcher alle gemäßigten Parteien zu Worte kommen, sind wenigstens, die schärfsten politischen Gegensätze gemildert und es kann eine fruchtbare gesetzgeberische Arbeit, namentlich auf wirthschajt- lichem Gebiete, eingeleitet werden. In Ungarn freilich wüthet der Kampf der Parteien noch fort, aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, daß auch da die Liebe des Kaisers zu seinen Völkern eine gedeihliche Lösung der Wirren finden werde. In Deutschland hat kein großer Conflict die Gemüther bewegt, wohl aber hat ein Er- eigniß ein wohlthuendes Licht auf das öffentliche Leben geworfen: Die Aussöhnung zwischen dem Kaiser und dem Fürsten Bismarck, zwischen dem an Rang höchststehenden und dem geistig bedeutendsten Deutschen. In Frankreich dauern die Katzbalgereien zwischen den Parteien fort und jeden Augenblick wird ein Ministerium gestürzt und ein neues geboren. Nicht einmal die immer wieder auftauchende Geißel des Anarchismus vermag in diesem Froschmäusekrieg eine Einigung der Streitenden herbeizuführen, und fortwährend wird das kleinliche politische Gezänk übertönt von dem Donner anarchistischer Höllenmaschinen, von - dem Wehgeschrei verstümmelter Menschen und verwaister Kinder. Mußte doch gerade am Ende des Zeitabschnittes, auf den unser Blick nach rückwärts schweift, sogar das Oberhaupt des Staates, als der sichtbare Träger der gesetzlichen Ordnung, dem Wahnsinn dieser Scheusale in Menschengestalt zum Opfer fallen.. Auch iu Spanien und Italien folgt ein Bombenattentat dem anderen, und in dem letztgenannten Staate ist ein Mordattentat auf den Premierminister eine der letzten Thatsachen, von der dieser Rückblick zu berichten haben wird. In Norwegen dauert der Kampf zwischen Königthum und Volk fort und hat recht häßliche Erscheinungen gezeitigt. Rußland macht sich wenig nach Außen bemerkbar, denn es hat mit der Hydra des Nihilismus, die immer wieder drohend ihr Haupt erhebt, genug zu thun. Deshalb erfreuen sich auch die Balkanstaaten einer verhältnißmäßigen Ruhe, bis auf Serbien, das durch die unglückseligen Verhältnisse in seiner Königsfamilie stets der Gefahr neuer Erschütterungen ausgesetzt ist. Auch die Türkei lebt ohne sonderliche Beschwerden ihr Dasein fort, höchstens daß hie und da die Ungeberdig- keit des jungen Khedive von Egypten dem Sultan etwas harte Nüsse zu knacken ausgibt. Und nun sei es uns gestattet, die einzelnen wichtigsten Ereignisse des Jahres vor unserem geistigen Auge erstehen zu lassen. Hesterreich-Ungar». Manche Heimsuchung ist auch Heuer unserem Vaterlande nicht erspart geblieben, aber es hat auch an erfreulichen Erscheinungen nicht gefehlt, und wir hatten doch keinen so schweren Verlust zu beklagen, daß die Völker des gesammten Kaiserstaates dadurch in Trauer versetzt worden wären. Was sich an Unerfreulichem ereignet hat, ist meist localer Natur gewesen und hat in der Empfindung des Volkes gerade nicht allzuweite Kreise gezogen. Ein Localfall ist es auch, der an der Grenze jenes Zeitraumes, den wir überblicken, steht, ein Wiener Ereigniß, das sehr traurig ist, aber doch eines gewissen psychologischen Interesses nicht entbehrt. Im Verlaufe des Juni vorigen Jahres mehrten sich in Wien in auffallender Weise Einbruchsdiebstähle, welche hauptsächlich in den Wohnungen von Parteien verübt wurden, die sich zum Sommeraufenthalte aus dem Lande befanden. Lange blieb der Thäter unentdeckt. Endlich brach in der versperrten Wohnung eines im Schottenhoje wohnenden Privatiers eines Tages Feuer aus. Man erbrach die Thüre, um zu löschen und entdeckte dabei, das; die Wohnung gründlich ausgeplündert sei. Ein Paar schmutzige Manchetlen, die man in einem Wäschkorb fand, führten auf die Spur des Thäters; durch die Nummer, die sie führten, ergab sichs, daß der stellenlose Commis Alois Gröschl der Einbrecher sei, und nach seiner Verhaftung stellte sichs heraus, daß auch die anderen gleichartigen Einbruchsdiebstähle, nach deren Thätern man bisher vergeblich gefahndet hatte, von ihm verübt worden seien. Das Merkwürdigste an der Sache aber ist, daß Gröschl nicht aus Noth stahl, auch nicht um das gestohlene Gut augenblicklich zu verprassen, wie es sonst die Art solcher Verbrecher ist, sondern, daß er Kreuzer zu Kreuzer legte, um sich ein Capital für die Zukunft zu sammeln. Ersuchte auch den Schein eines überaus soliden Jungen Mannes zu wahren, hielt sich von allen Ausschreitungen fern und war mit einem Mädchen aus achtbarer Familie verlobt. Als er seinen verbrecherischen Plan vereitelt sah, erfaßte ihn Verzweiflung und Angst vor der Strafe. Im Corridor des Landesgerichtes wurde er am 3. Juli mit anderen Häftlingen zu einer Arbeit geführt, und als er sich einen Augenblick unbeobachtet sah, stürzte er sich vom dritten Stockwerke in das Stiegenhaus hinab, wo er mit zerschmetterten Gliedern todt liegen blieb. Nun zu einem erfreulicheren Bilde. In Oesterreich ist im vorigen Jahre ein zweites Oberammergau entstanden, es ist dies Höritz im Böhmerwalde. Unter Leitung kunstverständiger und gelehrter Männer thaten sich die armen Bauern und Taglöhner des Ortes zusammen, um nach einem alten Passionsspiele, in einem dazu erbauten Theater, die Schöpfungsgeschichte, sowie das Leben und die Leidensgeschichte des Heilandes zur Aufführung zu bringen. Das Werk gelang. Waren die guten Leute auch nicht schauspielerisch geschult, so ersetzte doch die fromme Gläubigkeit und die Inbrunst der Gemüther diese Mängel und während des ganzen Sommers wurde die Passion in ergreifender Weise zur Darstellung gebracht. Von ^tay und Fern strömten Besucher hinzu und rerner konnte sich dem rührenden Zauber des frommen Spieles entziehen. Die Höritzer aber haben außer dem Bewußtsein, ihre Kraft in den Dienst eines edlen Werkes gestellt zu haben, auch noch den Nutzen, daß durch das Zuströmen ^Wohlhabenden Leutew ihr früher so armer und durstiger Ort einen neuen Aufschwung erhielt. * 3- Juli starb in Hermannstadt der lutherische Bischof Teutsch, den seine Glau- vens? und Stammesgenossen als Geschichts- fchreiber und Führer des Deutschthums in Siebenbürgen verehrten. Ein arger Schreck durchfuhr am 4. Juli ole Haupt- und Residenzstadt Wien. Am Nach- wutag dieses Datums war eine große Zahl von Pilgern von einer Wallfahrt aus dem altberühmten Gnadenorte Mariazell in Wien eiugezogen, und hatte sich in der Stephanskirche versammelt, um dort den Segen zu empfangen. Plötzlich erscholl in der dichtgedrängten Menge der Schreckensruf: „Feuer!" Ein Strauß aus trockenen Blumen und Gräsern, den eine der Wallfahrerinnen auf ihrem Stäbe angebracht hatte, war von der Kerze eines Nebenstehenden entzündet worden. Rasch riß man den brennenden Strauß herab und trat das Feuer aus, aber der Ruf hatte indessen alle Wallfahrer mit so panischem Schrecken erfüllt, daß sie in wilder Hast nach den Ausgängen drängten, in besinnungsloser Angst Alles vor sich niedcrstießen und niedertraten. Ehe es noch möglich war, die Gemüther zu beruhigen, hatte sich bereits ein entsetzliches Unglück vollzogen. Acht Personen, die in dem Gedränge zu Boden geworfen und getreten wurden, trugen gefährliche Verwundungen davon, Andere erlitten infolge des Schreckens empfindlichen Schaden an ihrer Gesundheit. Kamerting-Denümaf. Am 3. und 6. Juli fand in Krakau eine von Bischöfen und der Blüthe des galizischen Adels beschickte große Katholikenversamm- lung statt, welcher auch der apostolische Nuntius Msgr. Agliardi beiwohnte. 6*

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