Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1895

64 Letzteren, sowie seinen fünf neu zugewachsenen Leidensgenossen, die natürlich in der Hoffnung lebten, man würde sie mit Rücksicht auf ihren bedauerlichen Zustand ruhig weiterschlafen lassen, eine beträchtliche Überraschung zutheil. An Antipyrin bekam zwar ein Jeder von ihnen eine stattliche Dosis, aber sie mußten auch ausrücken, ebenso wie die Gesunden. „Ich will's mit dem Hausmittel Probiren, liebe Kinder, welches mir gestern der Sedelmann mitgetheilt hat," sagte der Herr Hauptmann mit seinem jovialsten Lächeln zu den Leidenden, die unter dem Befehl des schneidigen Corporals Zwirn eine eigene Abtheilung bildeten. „Die Influenza kann angeblich „coupirt" werden, wenn man sich im Freien aufhält und dazu recht viel Bewegung macht. — Corporal Zwirn —" „Befehlen, Herr Hauptmann?" „Sie werden mit Ihrer Abtheilung „Gelenksübungen" und „Uebungen mit dem Gewehre" um eine halbe Stunde länger machen wie die Uebrigeu. Vergessen Sie mir aber ja nicht darauf, daß Sie Kranke commandiren, die nicht eine Minute ruhig stehen dürfen, die recht viel Bewegung nöthig haben. Also möglichst wenig „Ruht!", die Leute müssen tüchtig in Schweiß kommen, und wenn Sie dieses Ziel nicht anders erreichen können, so nehmen Sie auch noch einige „Kniet!" und „Nieder!" und ein wenig Lansschritt zu Hilfe. Die sechs Kranke kommen dann zum Compagnie-Rapport." Der Corporal Zwirn entledigte sich des erhaltenen Befehls mit gewohnter Gewissenhaftigkeit. Beim Compagnie - Rapport konnten bereits drei von den Soldaten — welche wahrscheinlich die begründete Befürchtung hegten, daß der Herr Hauptmann seine Jnfluenzacur nöthigenfalls auch noch über „Gelenksübungen" hinaus ausdehnen werde — „gehorsamst" melden, daß bei ihnen merkwürdigerweise auch «icht einmal eine Spur mehr von der tückischen Krankheit vorhanden sei, von der sie noch vor so kurzer Zeit gequält worden waren. Die anderen Drei constatirten aber mit jämmerlichen Mienen und kläglichen Seufzern, daß sie leider noch nicht genesen seien. „Das Gliederreißen ist auch noch nicht weg?" „Meld' g'horsamst, Herr Hauptmann, das schon, aber das Fieber!" wehklagte der Eine. Und dabei blickte er ergeben zur Zimmerdecke empor, als. wolle er dergestalt mimisch andeuten, daß er sein letztes Stündlein für gekommen halte und sich der angenehmen Hoffnung hingebc, baldigst in einem besseren Jenseits zu sein. „Na ja, man sieht's ja," bestätigte der Hauptmann, scheinbar von Mitleid überwältigt, „Ihr Drei habt Fieber, starkes Fieber —" „Bitt' g'hursamst, Herr Hauptmann," wimmerte der Infanterist Sedelmann, „und außerdem hab' i Kopfweh, daß i rein glaub', ich kann 's nimmermehr anshalten." „Armer Kerl; dem bedauernswerthen Sedelmann geht's am schlechtesten von Allen! Na, ich werd' Euch was sagen, Leut'ln, probiren wir 's halt zuerst mit der Diät. Ein Jnfluenzakranker hat ja so immer einen förmlichen Ekel vor dem Essen; ihr Drei werdet also heut' nicht menagiren — Corporal vom Tag!" „Befehlen, Herr Hauptmann?" „Sie achten mir darauf, das Keiner auch nur das Allergeringste ißt bis zur Retraite, verstanden? — Ja, richtig, der arme Sedelmann'kann 's vor Kopfschmerzen nimmermehr aushalten — 's ist eine schwierige Sache, denn weder im Zugs- noch im Marodenzimmer herrscht die bei einem solchen Zustand erforderliche Ruhe. Wissen Sie- was. Infanterist Sedelmann, ich werd' Ihnen drei Tag Einzeln geben — keine Straf' natürlich, nur Formsache,, damit Sie Ruhe haben. Und weil Sie diät leben müssen, so fangen wir heute auch gleich mit einem Fasttag an."--------- Der Oberarzt mußte beschämt bekeunen, daß die Mittel, mit denen die Wissenschaft die Krankheiten bekämpft, von den einfachsten Hausmitteln oft weitaus über- troffen werden. Am selben Abend noch waren die zwei in Freiheit befindlichen Jnfluenzakranken so weit hergestellt, daß Jeder einen ganzen „Ritter"*) vertragen konnte. Und als am dritten Tage auch der *) Commißbrodwecken. Gin Genußmensch. Es war kurz nach der Abfahrt vom Westbahnhof, als sich der Insassen des Waggons eine wohlbegründete Aufregung bemächtigte. Ein Herr, mit fabelhaft entwickelten „Scharln", der sich soeben einer gründlichenLeibesvisitation unterzogen hatte, erklärte nämlich im Tone tiefster Niedergeschlagenheit: „Fixlaudon, jetzt hab' i mei Adaxl verlurn!" Die nächstsitzenden Damen kreischten auf und zogen — was hätten sie gethan, wenn die Kcinoline schon allgemein eingeführt wäre? — die Kleider bei den Füßen zusammen; ja auf ein Fräulein, das Männerhandschuhe Nr. 7% trug, wirkte der Schreck so lähmend, daß es den Arm sinken ließ, der bisher den Nacken eines Jünglings umschlungen gehalten. „Machen S' ka Remasuri, meine Herrschaften," beruhigte ein Fahrgast, der bisher damit beschäftigt war, ein ätzjonner ä Irr kourebette auf einem feltgetränkten ZeitungsPapier anzurjchten, das auf seinen Schenkeln lag, „der Herr mant ja nur a Giftnudel!" „Versteht si," bestätigte der Inhaber der Scharln, „a Ratzenschwaf'l, was denn sunst?" „No, was reden S' denn net urndli deutsch," tadelte eine riegelsame Mitbürgerin, die fortwährend ihre Kinder zählte, „wenn S' glei g'sagt hätten, daß sa si um a Klederlingpfeiferl handelt, war' uns der Schrocken derspart blieb'n!" Es gab allerdings noch ein paar Passagiere im Waggon, denen selbst dieses 55 Infanterist Sedelmann wieder das Licht der Welt erblickte, da gab er die Erklärung ab, er habe die unerschütterliche, tiefinnere Ueberzeugung^ daß ihn die Influenza während seiner Militärdienstzeit nimmermehr befallen werde! Deutsch zum Verständniß noch immer nicht ordentlich genug war (mein Gott, in einem so Polyglotten Staat ist das auch gar nicht verwunderlich!) und die vielleicht auch dann noch vor einem etymologischen Räthsel standen, als der Ausdruck „Friedhofspargel" gebraucht wurde. Aber die Zweifel dieser Unwissenden sollten bald aufgehelli werden. Den fieberhaften Nachforschungen des niedergeschlagenen Herrn war es nämlich gelungen, die vermißte Virginia - Cigarre aufzufinden, freilich an einem Orte, der für die Aufbewahrung derartiger zum Brechen eingerichteter ärarischer Genußmittel nicht besonders geeignet erscheint: in einer rückwärtigen Rocktasche. Er zog die Cigarre bedächtig hervor und untersuchte sie behutsam, so wie der Arzt einen Knochenbruch. Aber das war eine von der dauerhaftesten Sorte; sie ließ sich biegen wie eine Papillote. „A bisserl feucht is s'," meinte der Besitzer, der sie zärtlich, wie einen wiedergefundenen theuren Verwandten, von allen Seiten betracht te, „aber deswegen is s' mir do immer no zehnmal lieber wie a Regäulia-Mehadia A Vetschina is überhaupt 's beste Rauckerl, das 's gibt und eh der anzige Genuß, den si Unserans grad so guat vergunnen kann, wia der Rothschild." Um die Richtigkeit dieser anscheinend sehr gewagten Behauptung zu erhärten, berichtete er, daß der Herr von Blaim- schein, der reiche Stärkefabrikant, der in der Kaiserstraße zwei und^ am Ratzenstadl drei Häuser hat, ebenfalls nur Virginier

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