88 89 intimeres Fest war das des 30jährigen Bischofs- jubiläums Leos XII1., das die ganze katholische Christenheit freudigen Herzens mitfeierte. Der Vertreter Oesterreich-Ungans beim Vatikan, Gras Revertera, überreichte Sr. Heiligkeit bei dieser Z'apst Lco Xlll. Arankreich. Anarchismus — Cholera — Korruption; dieses Dreigestirn warf seine verderblichen Strahlen auf Frankreich. Angefangen hat es mit dem Proceß gegen Wilson,- den Schwiegersohn des früheren Präsidenten Gr övy; es handelte sich um Wahlbestechungen; geendet hat das Jahr mit Panama. Wilson wird freigesprochen. Am 11. Juni fand in aller Stille und Heimlichkeit die Hinrichtung des Scheusals Ra- vachol statt, des Mörders, Räubers und Leichen- schänders, der sich einen Anarchisten nannte. Tag und Stunde der Justification, ja sogar die Abreise des Scharfrichters Mr. Deibler wurde geheim gehalten — so klein war die Macht der Behörden und so groß die Anarchistenfurcht. Kein Wunder! Hatten doch bei der ersten Verhandlung die Pariser Geschwornen nicht gewagt Navachol trotz seiner eingestandenen Schandthaten zum Tode zu verurtheilen; freilich ohne damit etwas anderes zu erreichen, als daß die anarchistischen Spießgesellen Ravachols, durch diese sichtliche Zaghaftigkeit ermuthigt, das Restaurant Very in die Lust sprengten. Navachol starb, wie er gelebthatte: seine letztenAeußernngen legten Zeugniß von einem geradezu thierischen Cynismus ab. Ain 4. August wurden in Paris die.ersten Cholerafälle osficiell constatirt. Es erkrankten an diesem Tage sieben Personen. Die Cholera währte daselbst bis zum Eintritt der kühleren Jahreszeit ohne jedoch einen ausgesprochenen epidemischen Charakter anzunehmen. Auch in der Provinz kamen vielfach Cholerafülle zum Theil mit tödtlichem Ausgauge vor; so zu Beginn des August in Havre. Wüthete die Epidemie in Frankreich nicht so sehr wie in Rußland und Hamburg, so niachten sie doch einen stark depri- mirenden Eindruck, Präsident Karnot hat im Herbst dieses Jahres wieder einmal eine rührende sranko- russische Comödie aufgeführt. Es war am 6. September, als sich Herr Carnot anläßlich, der Centennarfeier der Einverleibung Savoyens an Frankreich in Aix-les-Bains befand. Der König von Griechenland war daselbst zur Cur, und auch — Herr v. Giers. Wahrscheinlich war es die Anwesenheit des letzteren, die so sinnberückend auf Herrn Carnot wirkte, kurz, als ein in russischer Tracht gekleideter Knabe ihm einen Blumenstrauß reichte, hob er den kleinen Blumenspender in die Höhe irnd küßte ihn, indem er emphatisch ausrief: „Mit diesem Kusse küsse ich Rußland. . , Noch eine Centennarfeier wurde abgehalten, nämlich am 22. September, die der französischen Republik. Sie spielte sich in würdiger Weise ab; die Hauptfeierlichkeit fand vor dem Pantheon statt, wo der Präsident die Minister unb Deputationen, die Staatskörper- schaften sich einfanden und Ministerpräsident Gelegenheit ein in den herzlichsten Ausdrücken abgefaßtes Glückwunschschreiben des Kaisers Franz Josef I. Loubet die Festrede hielt. — Gute Nachrichten kamen während der ganzen Zeit aus D ahomey. Am 10. August fand das Bombardement von König Behanzins Residenz statt, am 24. August eroberte Oberst Dodds Katagu. Schon am 26. September konnte Dodds neuerdings melden, daß er am 19. die gesammte Elite-Armee des Königs Dahomey in die Flucht geschlagen habe; am 3. October wurde ein neuer Sieg bei Glede erfochten und der 9. October brächte Botschaft von weiteren kleinen Erfolgen. Am 2. October starb hochbetagt in Paris Ernst Renan, der Theologe, Philosoph und Schriftsteller. Sein Leben und seine Schriften sind bekannt; je nach der Gläubigkeit oder Parteistellung des Beurtheilers sind sie bald in den Himmel erhoben, bald in den tiefsten Pfuhl der Hölle verdammt worden. Air seinem persönlichen Charakter konnte weder Freund noch Feind einen Makel entdecken. £rnß Z!enan. Am 18. October traf das Berhängniß einen zweiten großen Franzosen. Ferdinnndv.Lesseps, der Erbauer des Suezcanals verfiel in schwere Krankheit. So traurig dieses Erreigniß an und für sich war, so wird es doch durch den Umstand gemildert, daß das Dunkel mit dem die Krankheit seinen Geist umhüllte, ihm später so manchen Schimpf und manches Leid ersparte. Bemerkenswerth für die Energielosigkeit der französischen Regierung ist die Geschichte des Streiks von Carmaux. Die Socialistendes Ortes hatten es durchgesetzt, daß einer ihrer Genossen, der Arbeiter Calvignae zum Maire gewählt wurde. Die Unternehmung, bei der dieser bedienftet war, verfügte daraufhin seine Entlassung, worauf die Genossen mit einem allgemeinen Streik antworteten. Die Regierung mit ihren Bestreben zu vermitteln, machte mit diesem Vorhaben vollständig Fiasko, denn ihr Vermittlungsvorschlag wurde von der Arbeiterschaft zurückgewiesen. Wohl aber gelang es den Vertrauensmännern der Arbeiter, die Deputirten Milleraud, Pelletan und Clemenceau am 3o. October die Arbeiter zum Aufgeben des Streiks zu bewegen. Es war dies eine Oppor- tunitätsmaßregel, aber keine Versöhnung. Wie der Groll unter der Asche weitergeglimmt haben mag, kann man daraus ersehen, daß am 8. November zu Paris im Gebäude der Kohlengewerkschaft Carmaux eine Dynamitbombe gefunden wurde. Dieselbe wurde auf das Polizei- commissariat des Palais Rayal in der Uue äs8 bons enfants gebracht. Augenscheinlich wurde dort nicht mit der nöthigen Vorsicht vorgegangen, denn die Bombe explodirte, tödtete sechs Personen und verwundete eine sehr schwer. Der 13. November ist der Tag, mit welchem die berüchtigte Panamafrage ins Rollen kam. Es wurde vorher schon genug gemunkelt, wie unverantwortlich mit dem Gelde der Actionäre umgegangen worden sei. Unsummen, nach Millionen zählend, seien für nichtige Zwecke, namentlich für eine im Verhältniß zum thatsächlichen Effecte wenig bedeutende Zeitungsreclame ausgegeben worden; ebenso fei eine Anzahl von staatlichen Functionären durch horrende Bestechungssummen für das Unternehmen günstig gestimmt werden. Diese vagen Beschuldigungen nahmen eine concrete Form an durch den Antrag des Justizministers Ricard, eine Anzahl von Verwaltungsräthen der Panama-Actienge- sellschaft, unter ihnen Lesseps, Vater und Sohn, und Ingenieur Eiffel der gerichtlichen Verfolgung zu unterziehen. Das geschah am 15. November 1892. Schon 6 Tage später starb einer der Hauptbeschuldigten, Baron Reinach, angeblich am Herzschlag, wie die Volksstimme meint, jedoch eines unnatürlichen Todes. Er riß das Ministerium Loubet im Falle mit sich. Denn als am 28. November in der Kammer der Antrag gestellt und angenommen wurde, daß der bereits beerdigte Leichnam Neinachs der Autopsie zu unterziehen sei, mußte das Mini- sterium das für ein Mißtrauensvotum auffassen und demissionirte. Ein Ministerium Ribot, das jedoch zum größten Theil die Mitglieder des früheren Cabinets enthielt, kam nun aus Ruder. Aber das Panamagift fraß weiter. Am 13. December wurde Finanzminister Rouvier durch eine Eröffnung Clemenceaus unmöglich; yn seine Stelle tratTirard. Indessen ergab die Autopsie thatsächlich, daß Reinach durch Vergiftung um- gekommen sei. Immer weitere Kreise zog die böse Affaire. Am 16.December wurde Lesseps jun. in Hast genommen, am 20. die Verfolgung Rouviers sowie vier anderer Deputirten und fünf Senatoren angeordnet. Auch an Clemenceau spritzte das Gift der Verdächtigung heran; die Folge davon war ein Duell zwischen ihm und Döroulede, das aber nach bekanntem sranzösischen Recepte unblutig verlief. Am 9. Jänner erfolgte die Verhaftung des ehemaligen Ministers
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2