Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1894

86 Als sich ein allgemeiner Sturm der Entrüstung über diese Behauptung erhob, versprach Ahl- wardt actenmäßige Belege hiefür beizubringen. Am nächsten Tage brächte der Herr Rector thatsächlich einen schmächtigen Fascikel mit angeblichem „Beweismaterial", begleitet von der pomphaften Versicherung, daß dies nur ein kleiner Theil der Acten sei, die insgesammt mehrere Metercentner wägen und deshalb nicht gleich zur Stelle zu schassen seien. Es stellte sich jedoch heraus, daß dieses „Beweismateriale" auch nicht die Spur einer Bestätigung der leichtfertigen Verdächtigungen enthalte und Herr Ahlwardt mußte es sich gefallen lassen, von allen Parteien des Hauses mit moralischen Fußtritten regalirt zu werden. Es fand sich nicht einmal in seiner eigenen Partei jemand, der für ihn eingetreten wäre. Dieses unnöthige Actenspiel wiederholte sich im Laufe der Session noch einigemale, aber sehr bald überwog der Ekel die Neugierde, und Ahlwardt wurde zu den Toden geworfen. Am 19. April trat der deutsche Kaiser neuerlich eine Reise an, und zwar nach Italien, wo König Humbert und Königin Marghe- rita das Fest ihrer silbernen Hochzeit feierten. Fast alle Potentaten Europas hatten Vertreter zu diesem Feste entsendet, aber keiner wurde mit dem Pompe und der Freude empfangen, wie Kaiser Wilhelm II. Endlos war die Zahl der feierlichen Veranstaltungen, endlos der Jubel des italienischen Volkes, wo immer das Oberhaupt des deutschen Reiches sich zeigte. Am 23. April machte der Kaiser dem Papste einen Besuch im Vatikan, und verweilte in beinahe anderthalbstündigem Gespräche beim Oberhaupte der katholischen Kirche, während die Kaiserin die Kunstschätze des Batican besichtigte. Mail hat mancherlei Vermuthungen an diese Unterredung des Kaisers mit dem Papste geknüpft; am häufigsten wurde die Vermuthung laut, daß bei dieser Gelegenheit eine Einwirkung des Papstes auf das Centrum zu Gunsten der Militärvorlage erzielt werden sollte. Aber alle derartigen Hypothesen wurden sehr schnell mit der Dementirspritze gelöscht. Es ist auch thatsächlich am nächsten liegend, anzunehmen, daß die Unterhaltung beider Souveräne sich in allgemeinen Formen bewegt habe. Am 1. Mai verabschiedete sich Kaiser Wilhelm II. von dem italienischen Königspaar in Spezur und reiste über die Schweiz, wo er am 2. Mai in Luzern von den obersten Functronären der Republik willkommen geheißen wurde, nach Deutschland zurück. Hier war unterdessen der Streit um die Militärvor- lage auf das heftigste entbrannt. Den allem'Anschein nach bereits todtgeweihten Gesetze suchte im letzten Augenblicke noch der Huene'sche Com- promißantrag das Leben zu retten, dein sich auch Caprivi namens der Regierung anschloß — aber es war vergebens. Am 6. Mai erfolgte die definitive Ablehnung der Militärvorlage seitens der Volksvertretung. Der Kaiser antwortete durch den Mund Caprivi's auf dieses Votum mit der Auflösung des Reichstages und der Ausschreibung der Neuwahlen. Deutschland hat schon lange keinen so hitzigen Wahlkampf gesehen wie diesen, selbst der Kaiser nahm keinen Anstand, durch gelegentliche agitatorische Aeußerungen an demselben theilzunehmen. Schlimm ging es bei den Wahlen den freisinnigen Parteien, sie verloren eine ganze Anzahl von Mandaten. Wie ein Fels stand das Centrum, es errang 96 Mandate, mit namhafter Verstärkung gingen die Conservativen (74 Mandate) und besonders stark die Socialdemokraten (mit 44 Stimmen) aus dem Kampfe hervor. Der neue Reichstag bewährte sich nach dem Wunsche des Kaisers. Mit Anfang Juli trat er zu einer kurzen Tagung zusammen. Es handelte sich eben nur um die rasche Erledigung der Militärvorlage, wie dies auch in der Thronrede deutlich genug gesagt wurde. Die Maschine arbeitet prompt. Schon in einigen Tagen war das Gesetz unter Dach und Fach, allerdings mit einer lächerlich kleinen Majorität — 12 Stimmen — aber doch. Den Ausschlag hatte das Häuflein der Polen gegeben; an sie wendeten sich auch die ersten Aeußerungen des kaiserlichen Dankes. Es wird nicht bei den Worten des Dankes bleiben, sondern es regen sich schon Anzeichen, daß den Polen mancherlei Concessionen namentlich auf dem Gebiete des Unterrichtes blühen. Am 11. Juni starb auf Schloß Feldaffing am Starnberger See Herzog Max Emanuel ui Barern. Der Herzog war der jüngste Bruder der Kaiserin von Oesterreich und stand erst im o4. Lebensjahre. Italien. Zwei Ereignisse drücken der heurigen Chronik des apennmischen Königreiches ihren Stempel auf: dre Panamino-Affaire und die silberne Hochzeitsfeier des Königspaares. Die letztere Feier, die einen ungewöhnlich pompösen Charakter annahm, hatte übrigens einen Vorläufer. Schon früher — am 8. September — fand sich eine große Anzahl von internationalen Gästen in Italien ein. Es war dies bei der Gelegenheit )er Columbusfcier in Genua, deren Hauptbe- 'tandtheil eine große Flottenescadre im gleichnamigen Golfe bildete, zu welcher sich Schiffe aller Nationen einfanden. Auch die österreichischungarische Escadre nahm einen imponirenden Rang in der Reihe der fremden maritimen Vertretungen ein, wenn sie es auch nicht versuchte, in so aufdringlicher Weise aus der Zusammenkunft mit der italienischen Flotte und dem italienischen Königshause politisches Capital zu schlagen, wie der französische Admiral. Aber bald darauf kamen schlimme Tage. Nach französischem Vorbilde hatte auch Italien sein kleines Panama, sein Panamino. Bei der Banca Romana wurden nämlich bedeutende Jn- correctheiten entdeckt, für die der Director derselben, der Deputirte de Zerbi, verantwortlich doch in die Competenz der ordentlichen Gerichte einzugreifen. Die nächste Zukunft wird wohl eine Klärung dieser verwickelten Angelegenheit herbeiführen. gemacht wurde. Am 1. Februar 1893 wnrde in. der Kammer die gerichtliche Verfolgung de Zerbi's verlangt und bewilligt. Auch hier wie in Frankreich schien die schmutzige Affaire weite Kreise ziehen zu wollen. Die in der Luft fliegenden Verdächtigungen wollten sich unter Anderem auch an die Person Rudini's heften; aber dieser stellte am 2. Februar selbst den Antrag, seine Beziehungen zur Hauen Romana durch eine En- quete untersuchen zu lassen. Als letzter Schritt in der Klärung dieser Angelegenheit ist der Beschluß der Kammer vom 21. März zu betrachten, welcher die Einsetzung einer Commission zuni Gegenstände hat, die alle Docnmente über die Frage der Lauen Lomaua prüfen soll, ohne je< Aas italienische Königspaar. ~ Einen umso erfreulicheren Anblick bieten die Festlichkeiten, welche zur Feier der silbernen s eit ^ Königspaares in Rom abgehalten Einen besonderen Glanz erhielten diese ^^1^ Besuch des deutschen Kaisers, Gemahlin persönlich das be- ^undeteund verbündete Königspaar zu begrüßen wid zu beglückwünschen kam. Auch die übrigen Souveräne waren durch Abgesandte vertreten; Oesterreich-Ungarn hatte den allbeliebten, na87 mentlich in den Kreisen der Gelehrtenwelt hochgeschätzten Erzherzog Rainer zu dieser Feier eingeladen. Aber während der protestantische Kaiser Deutschlands mit diesem Besuche auch eine Zusammenkunft mit dem Papste verband, haben verschiedene Umstände diplomatischer und politischer Natur den Erzherzog Rainer bewogen, auf einen Besuch im Vatikan zu verzichten. Italien hatte bei dieser Gelegenheit die Genugthuung, seinen Gästen auch mit der reifsten Frucht seines künstlerischen Vermögens aufzu- warten. Nicht die geringste-Stelle unter den festlichen Veranstaltungen nahm die Vorführung des neuesten Werkes des größten italienischen Operncomponisten, des achtzigjährigen Giuseppe Verdi des „Falstaff" ein. Im vorigen Jahre feierte das Königreich das hundertjährige Geburtsjubiläum eines Verstorbenen, des Schwanes von Pesaro, Rossini, jener feierte es im Triumph eines Lebenden, Verdi's. Gerade in den Tagen, da diese Chronik schließt, hebt der trium- phirende Flug dieses neuesten Werkes Verdi's über ganz Europa an. In Wien hat es bereits die Bewiinderung des kunstverständigen Publikums errungen. Die Geschichte des Vatikans in diesem Jahre ist eng mit der der europäischen Staaten verknüpft und hat an den betreffenden Stellen ihre Würdigung gefunden. Ein mehr häusliches,

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