Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1894

76 Hat, sondern auch einen neuen Beleg für die intimen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Oesterreich-Ungarn und Deutschland bildet: es war dies der Distanzritt Wien-Berliu. Auf dem Tempelhofec Felde in Berlin und am Startplatze in Floridsdorf-Wien ritten an diesem Tage die ersten Reiterofficiere beider Staaten ab. So neidlos und rückhattstos jeder Oester- reicher auch die ausgezeichneten Leistungen der preußischen Officiere anerkennen muß, so bleibt doch die Thatsache unbestritten, daß sowohl die österreichischen Reiter als auch das Pferde- material über die gleichen preußischen Factoren einen entschiedenen Sieg errungen haben. Als erster der österreichischen Concurrenten kam am 4. October Oberlieuteaant v. Miklos nach reichte Meister der Wiener Sittenschilderung, der unverwüstliche Humorist und Satiriker starb nach langem schweren Leiden. Erst vor etwa einem Jahre hatte er seinen 70. Geburtstag gefeiert und dabei eine Fülle von Ehren und Glückwünschen seitens seiner zahlreichen Verehrer erfahren. Am 11. October kam Kaiser Wilhelm Is. nach Wien Der Besuch des deutschen Kaisers bei unserem Monarchen ist wegen seiner Regelmäßigkeit kein Anlaß mehr zu festlichen Veranstaltungen, aber die Freude über dieses Er- eigniß ist jedesnial frisch und neu, und die Wiener begrüßten den Beherrscher des deutschen Reiches jedesmal mit einer Herzlichkeit, als sähen sie in ihm nicht nur den Gast des Kaisers sondern auch den des Volkes. Nach dem GalaZwei politische Ereignisse von hoher Bedeutung fielen in die nächsten Tage. Am 19. October wurde das Stadtverordnetencollegmm in Reichenberg aufgelöst und die Stadtverwaltung einem landesfürstlicheu Commissär übergeben und am 24. October verließ das Kaiserpaar plötzlich und mit leicht wahrnehmbaren Anzeichen von Indignation Budapest. Beide Thatsachen sollten al^ gegen nationale Uebergriffe gerichtet angesehen werden. Dem Reichenberger Stadtrathe wurde eine maßlose Betonung der dcutsch- nationalen Richtung zur Last gelegt, welche sich in aufreizenden Aeußerungen ün Schoße des Stadtverordnetencolleginms und in einer einseitigen Handhabung des Vereins- und Versammlungsgesetzes geäußert haben soll, in Budapest waren es chauvinistische Agitationen, welche 77 wei'e bejchräiikte sich die Anzahl der Todesfälle im Ganzen auf vier, und auch die Zahl der Erkrankungen blieb eine verschwindend kleine. Das Hochauellenwasser und die peinlichen Vorkehrungen der Sanitätsbehörden haben den tückischen Feind besiegt. Am 26. October schied der bisherige österreichische Botschafter in Berlin, Graf Szechenyi, thatsächlich aus seiner Stellung, die nun der bisherige Minister am allerhöchsten Hoflager, Herr v. Szögyenyi-Marich einnahm. Zum Minister a latere wurde Freih. v. Föjervary ernannt. Am 2. November starb in Ungarn der Führer der Achtundvierziger-Partei, Daniel Jranyü — In Ungarn beginnt um diese Zeit die kirchenpolitijche Frage acut zu werden und Knliunft der deutschen Aistanzreiter in Z-toridsdorf 6ei Wien. Empfang der österreichischen Aistanzreiter durch Kaiser Wilhelm It in Merlin. einer Reitdauer von 74 Stunden und 2ö Min. an. Er wurde jedoch von dem nach ihm angelangten Cameraden Grafen Will). Starhem- berg geschlagen, der die Strecke in 71 Stunden 26 Minuten zurückgelegt hatte. Starhemberg blieb denn auch der Sieger im gesammten Distanz- wettritt, denn der preußische Distanzreiter mit dem besten Record, Rittmeister v. Reitzenstein, der am 6. October in Wien eintraf, brauchte zu dem Ritt 73 Stunden, 6 Minuten, 66 Secunden. Sowohl in Wien wie in Berlin wurden die schneidigen Reiterofficiere mit den größten Ehren empfangen und ihnen Galatafeln gegeben, denen die Monarchen beiwohnten. Am 7. October erlitt Wien einen schmerz- lichen Verlust. Friedrich Schlögl, der unerdiner in Schönbrunn überreichte Kaiser Wilhelm dem Ministerpräsidenten Grafen Taasfe die Jnsignien des schwarzen Adlerordens. — Neben dem deutschen Kaiser hatten die Wiener noch eine andere Größe zu feiern, zwar keinen Lan- desfürsten, aber einen Herrscher im Reiche der Wissenschaft: Bill roth. An diesem Tage waren 2$ Jahre der Lehrtätigkeit und ärztlichen Praxis Billroths in Wien verflossen. Man braucht den Namen nur zu nennen und alle Welt weiß, was dieser Mann für die chirurgische Wissenschaft bedeutet. — An diesem Tage verließen die deutschen Distanzreiter Wien. Am 16. October wurde in Brünn das Denkmal des unvergeßlichen Kaisers Josef II. in feierlicher Weise enthüllt. bei Hose verstimmten. Bei der bevorstehenden Honvedseier sollte nämlich auch das Hentzjdenk- mal durch Honveds bekränzt werden. Es sollte dies eine Art posthumer Versöhnungsfeier zwischen den einstigen Gegensätzen darstellen, die im neuen Ausbau der Monarchie in gemeinsamer Vaterlandsliebe zusammengeschmolzen sind. Dagegen erhob sich ein gewaltiges Gezeter einiger Hppermagyaren und Kossutpriester — und daher die Plötzliche Abreise des Kaisers. Am 24. October ereignete sich der erste Cholerasall in Wien. Der Taglöhner Franz Strkal erkrankte an der Seuche und starb vier Tage später. Mit ihm fast gleichzeitig wurde der taglöhner Franz Wodal von der Krankheit befallen, und am 26. erkrankte der Matrose Hoch, der nach zwei Tagen starb. Glücklicherdem Cabinet Szapary über den Kopf zu wachsen. Derselbe beschließt deshalb seine Demission zu geben, worauf Dr. Wekerle am 11. November mit der Cabinetsbildung betraut wird. Schon am 21. November tritt Wekerle mit seinem kirchenpolitischen Programm vor die Volksvertretung. Dasselbe enthält die bekannten Punkte: Bürgerliche Matrikel und Civilehe. Wekerle gibt seiner Absicht Ausdruck mit möglichster Schonung der religiösen Gefühle, aber auch mit möglichster Entschiedenheit die Rechte des Staates zu wahren. , . , _ Indessen ist auch in der diesseitigen Reichs- hälste der Reichsrath an: 6. November zusammengetreten. Der'Anfang der Session verlies trotz der etwas gespannteren Situation ruhig und sachlich. In dieser Zeit — am 7. November

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