Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1894

75 Valutavorlage, die denn auch in dritter Lesung zur Annahme gelangte,, traten doch wiederholt Erscheinungen zu Tage, welche eher auf eine Trübung, als auf eine Klärung der politischen Atmosphäre hindeuteten. Namentlich' auf der linken Seite des Hauses war man von der Sachlage nicht sonderlich erbaut. Durch den Eintritt des Grafen Kuenburg in die Regierung hatte man eine Wendung derselben nach der deutsch-fortschrittlichen Seite erhofft. Man hatte gedacht, auf die Aera Taaffe-Dunajewsli werde eine Aera Taaffe-Kuenburg folgen, und stand nun vor einer Aera Taaffe-Schönborn Die radiealen Eleniente, gegen welche Graf Taasfe durch seine „dreibeinige Majorität" Front zu machen gedachte, geberdeten sich radiealer und siegesbewußter als je, und Niemand war da, der offen und zualeich wirksam gegen sie vorzu- gehen wagte. So spitzten sich auch in dieser Session die Gegensätze nur um so schärfer zu, und der volitische Wind wehte trotz aller Versöhnungsversuche schärfer als zuvor. Der nächste Tag, der 22. Juli brächte die Eröffnung eines deutschen Festes, noch dazu auf heißem, vielumstrittenem Boden. In Budweis wurde das sechste deutsch-österreichische Kreis- Turnfest unter ungeheuerem Zuströmen der deutschen Turnerschast gefeiert. Der glänzende Verlauf des Festes gewann unter den obwaltenden politischen Verhältnissen und mit Rücksicht auf den Festort ganz von selbst den Charakter einer großartigen politischen Demonstration und blieb infolge denen nicht frei von Anfeindungen der nationalen Gegner. Eine Vermählungsfeier, an der die Bevölkerung init aufrichtiger Freude rheilnahm, brächte der 26. Juli. Gräfin M a ri a Na i n eri a von Waideck, die Tochter des Erzherzogs Heinrich, die im vorigen Jahre von dem traurigen Schicksale getroffen wurde, fast gleichzeitig ihren Vater und ihre Mutter, Baronin Waideck zu verlieren, vermählte sich mit dem Prinzen Heinrich von Campofranco, dem Sohne des Herzogs Della Grazia. Erzherzog Rainer und Erzherzogin Marie, die seit dem Tode des Erzherzogs Heinrich und seiner Gemahlin an der Verwaisten mit inniger Liebe Elternstelle vertreten hatten, wohnten: der Trauungsfeierlich- keit bei, ebenso sämmtliche in Wien weilenden Mitglieder d^s kaiserlichen Hauses. Der Kaiser, der eben in ^zschl weilte, sandte von dort dem < jungen Paare die herzlichsten Glückwünsche. ! Einen doppelten schmerzlichen Verlust erlitt die österreichische Kunst durch das fast gleich- ! zeitige Hinscheiden zweier hervorragender Land- schaftsmaler. Am 1. August starb in Wien der s danialige Reetor der Academie der bildenden ; Künste Leopold Müller und am 9. August 5 verschied in Wasserland-Shlt im kräftigen Man- l nesalter Emil Schindler. Beiden verdankt die s Welt eine Reihe hervorragender Werke. i Am 6. August wurde in Linz unter großer t Betheiligung von Clerikern, Kirchenfürsten und s [ Anhängern der eonservativen Partei ein großer österreichischer Katholikentag eröffnet, der bis zum 10. August währte, und eine Anzahl von Resolutionen faßte, welche die Betonung der Unfehlbarkeit des Papstes, die Nothwendigkeit einer weltlichen Herrschaft des Oberhauptes der katholischen Kirche und die confessionelle Schule zum Gegenstand hatten. In die ersten Augusttage — den 4. — fällt auch der Rücktritt des czechischen Landsmannministers Baron PraLak. Er war der Ver- trauensmann der Altczechen in der Regierung gewesen; mit der Verdrängung dieser Partei durch die Jungezechen war für ihn kein Platz mehr im Kabinett und seine Demission war schon lange eine ausgemachte Sache. Bei dem Verhältnisse der Czechen zu der Regierung konnte natürlich auch von einem Nachfolger Baron PraLaks nicht die Rede sein. $rnf Szögyenyi. Am 10. August wurde der Rücktritt des österreichisch-ungarischen Botschafters in Berlin, Grafen Szechenyi offiziös bekannt gegeben, und zugleich als Nachfolger desselben der bisherige Minister am kaiserlichen Hoflager Szö- gyenyi-Marich genannt. Dieser Personenwechsel hatte keinerlei politische Bedeutung. Am 15. August fand das V. deutsche Sänger- Bundesfest in Teplitz statt. Einer der reichsten und angesehensten Kirchenfürsten Oesterreichs segnete am 19. August das Zeitliche. Cardinal Fürsterzbischof Landgraf von Fürsteuberg, der in jungen Jahren den bischöflichen Stuhl von Olmütz bestiegen hatte, starb au diesem Tage in Hochwald, der Som- merfrische des jeweiligen Bischofs. Wiewohl wegen der aus Czechen und Deutschen gemischten Bevölkerung seiner Diöcese die Möglichkeit einer Parteinahme des Bischofs mit der ihm untergebenen Geistlichkeit nicht allzuferne lag, hat es der verstorbene Fürstbischof doch verstanden, sich die Achtung beider Nationalitäten zu bewahren. Seiner humanen Gesinnung gab Landgraf Fürstenberg dadurch Ausdruck, daß er sein Vermögen den Armen der Städte Olmütz und Krem- sier vermachte. Am 30. August starb in Wien der langjährige Gouverneur der österreichisch-ungarischen Bank, Geheimrath Alois Moser. Ein stolzes und frohes Fest feierte in den Tagen vom 4. bis zum 7. September die „allzeit getreue" Stadt Wiener-Neustadt. 700 Jahre find seit der Gründung dieses blühenden Gemeinwesens verflossen, und während der ganzen Zeit hat Wiener-Neustadt sich stets reichs- und kaisertreu bewiesen, und so manchem Feind der Erblande muthig die Stirne geboten. Zahlreiche Festgäste von Nah und Fern waren zu diesem Ehrentage erschienen: Gesangvereine.Turnvereine, Feuerwehren, Bürgergarden, Veteranen aus allen umliegenden Städten kamen, auch der Männer- Gesangverein und der Schubertbund aus Wien. Den Höhepunkt erreichte der Festesjubel, als Erzherzog Carl Ludwig in Vertretung des Kaisers die wackeren Bürger von Wiener Neustadt mit seinem Besuche beehrte. Die Bürgerschaft von Wiener-Neustadt gab ihren Gefühlen der Loyalität durch eine Huldigungsadresse Ausdruck, welche an den Kaiser abgesendet wurde. Es waren festsrohe Tage nicht nur in Wiener-Neustadt allein. In Wien begannen an demselben Tage, an welchem dieses Stadtjubi- läum eröffnet wurde, der Dermatologen- congreß, dessen Mitglieder am 6. im Rath- hause als Gäste der Stadt Wien vom Bürgermeister begrüßt wurden, und in Meran tagte gleichzeitig der Alpenvereinstag. Die Mitglieder dieses alpinen Congresscs hatten während ihres Meraner Aufenthaltes einen Kunstgenuß ganz eigenthümlicher Art: die Volksschauspiele, welche von Männern der dortigen Gegend, auf einer unter freiem Himmel befindlichen Bühne, aus der Zeit des Tiroler Freiheitskampfes mit Andreas.Hofer in vorzüglicher Darstellung und mit durchaus ersten Costümen und Requisiten aus jener Zeit zur Aufführung gebracht wurdem Auch sonstiges, nicht den alpinen Verbänden angehörendes Publikum war in ungezählter Menge herbeigekommen, um dieses Schauspiel zu betrachten dieses sauberen Consortiums stand der Hofrath Trzcieniecki mit seinen Helfershelfern, dem Finanzinspector Spendling und dem Zollverwalter v Kobierski. Ein Sumpf von Cor- ruption wurde durch diesen Proceß aufgedeckt, wie man ihn in einem civilisirten Staate nie für möglich gehalten hätte. Um so betrübender mußte diese Beleuchtung halbasiatischer Zustände wirken, als sonst im ganzen Reiche der österreichische Beamtenstand hoch über allem Verdachte unlauterer Gebahrung steht. Der Augius- stall wurde gründlich gereinigt; das Urtheil, das am 1. October gefüllt wurde, verhängte über die Mitglieder des Betrügerconsortiums Kerkerstrafen von 4 Jahren bis zu 8 Monaten. Indessen wurde Wien durch die Kunde einer neuen rüthselhaften Blutthat in unerhörte Aufregung versetzt. Am 16. September wurde an dem Uhrmachergehilfen Joh.Lammel. zu Heller Mittagszeit, während er sich allein im Laden seines Princivals befand, ein Mordversuch unternommen. Das unglückliche Opfer wurde durch Schläge auf den Kopf lebensgefährlich verletzt und der größte Theil der Gold- und Silberwaaren geraubt. Die Aufregung wurde um so größer, als Tag um Tag verrann, ohne daß man des Thäters habhaft werden konnte. Erst der 26. September brächte die Entdeckung des Mörders. In Preßburg wurde ein Mann Namens' Sze- meredy unter dem Verdachte des Diebstahls verhaftet. Gleich nach seiner Verhaftung erschoß sich Szemeredy. Nach seinem Tode machte man die Entdeckung, daß der Attentäter Lam- mels durch diesen Schuß seinem Leben ein Ende gemacht hatte, und daß man es mit einem Verbrecher schlimmster Sorte zu thun gehabt habe, dessen Gewissen unzweifelhaft mit mancher Mordthat belastet war. Auch manches frühere Verbrechen in Wien, so der Mord an der Emeders, wurde ihm nun zur Last gelegt — ob mit Recht oder Unrecht ist bis heute noch nicht entschieden- Der schwerverwnndete Lammel rang wochenlang mit dem Tode. Der Aufopferung der behandelnden Aerzte gelang es jedoch, ihn zu heilen. Am 18. September brächte die „Wiener Abendpost" die officielle Nachricht, daß die Cholera in die Grenzen unseres Reiches eingezogen sei; es wurden die vier ersten Fälle von Cholera asiatica in Podgorze bei Krakau constatirt. — Am 23. September starb der erste Vice- bürgermeister von Wien, Dr. Borschke, ein Mann von seltenen Gaben des Geistes und untadeligem Character. — An demselben Tage beging die Stadt Waidhofen a. d. Ibbs den 360. Gedenktag des Türkeneinfalles, der von den verewigten Bürgern und Sensenmachern siegreich abgeschlagen wurde. Am 1. October wurden die Delegationen in Budapest in der üblichen Weise eröffnet. Unter demselben Datum fand die Jnscenesetzung eines Unternehmens statt, das nicht nur in sportlicher Beziehung unübertroffene Bedeutung Em Schauspiel ganz anderer Art, ein unsäglich schimpfliches Bild, entrollte sich in der ^chwurgerichtsverhandlung die am 12. Sep- remoer in Wien gegen mehrere Czernowitzer Zoll- ^slnfleute eingeleitet wurde. Es ^ um eine Summe von vielen tausend ^e der Staat dadurch benach- kstV3- die Zollbeamten gegen Bezahlung einer Bepechungssumme einen aus- gedehnten Schmuggel duldeten. An der Spitze

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