Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1894

46 eines anderen — Sie, die Tochter des Anarchisten!" Er griff nun wieder nach ihrer Hand, die ihm diesmal nicht mehr entzogen wurde. „Sie haben recht," sagte Praslowia leise und richtete den Strahl ihrer dunklen Augen voll auf ihn, „wir müssen uns trennen, es ist auch um meinetwegen." „Auch Deinetwegen?" jubelte er. „O, dann soll uns nichts auf Erden von einander scheiden." Er umarmte die zitternde Gestalt des Mädchens und bedeckte ihr marmorbleiches Antlitz mit flammenden Küssen; sie ließ es willig geschehen. „Willst du mir folgen, Geliebte, willst dn Vater und Bräutigam verlassen? Sprich, Praskowia, sage „ja!" drängte er stürmisch. „Ja!" rief das Mädchen in jauchzender Freude und warf sich an seine Brust, „und sei's um den Preis meiner Seligkeit, ja, ich folge dir, Schascha!" Der folgende Tag war zur Flucht bestimmt. Praskowia zeigte nicht die geringste Veränderung ihrem Vater und Lebin gegenüber; zur festgesetzten Zeit kleidete sie sich an wie gewöhnlich, nur den Schmuck, das Erbtheil ihrer Mutter, hatte sie mit sich genommen und schrieb einen Brief an ihren Vater, in welchem sie für immer Abschied nahm und bat, alle Nachforschungen über ihr ferneres Schicksal zu unterlasse». Noch einen laugen, liebenden Blick warf sie zurück in die Gemächer, welche längst die Spiele ' ihrer glücklichen Kindheit gesehen hatten, ( einen letzten Blick — und dann schritt I ste fest entschlossen über die Schwellen des väterlichen Hauses — für immer! I Im Norden flackern die Leiden- l schaften nicht so leicht auf wie im licht- । bewegten Süden, aber wenn sie einmal ; Besitz ergriffen haben von einem Herzen, 1 dann sind sie ein verzehrender, allaewal- i tiger Brand. - ' , II. Verrathen. ! Ungefähr ein Jahr mochte seither i vergangen sein. Wir bitten den Leser, s > uns in eine, weit abseits vorn groß- ) städtischen, lebhaften pulsirenden Leben Petersburgs, fast an einem Endpunkt der Zarenstadt gelegene Straße zu fol- ! gen, die nur von wenigen unansehnlichen Häusern gebildet wird. Der ganze Ausdruck dieser Gegend weist darauf hin, daß dieselbe weit entfernt ist von der Wohnstäite der Reichen und Vornehmen. In einem Zimmer des Erdgeschosses eines dieser, von den Nachbargebäuden durch einen vernachlässigten, wüsten Garten getrennten Häuschen war ein junges, schönes Weib von leidendem Aussehen um einen brodelnden Samovar emsig beschäftigt. Das Haus inncht einen nn- gemein traurigen Eindruck, das Gemach ist zwar geräumig, doch kahl und deshalb unbehaglich, und das junge, blasse Weib ist — Praskowia Ratikosf. Eintönig singt der Theekessel seine einschläfernde Melodie llnd Praskowia blickt bald in die Flammen, die ihn von allen Seiten umzüngeln, bald wieder unruhig durch das Fenster. „Schascha bleibt heute wieder so lange aus, und er weiß doch, wie sehr ich mich immer um ihn ängstige. Sein Beruf ist so gefahrvoll, ich zittere, weuu ich. daran denke, oder ist er wieder in der Gesellschaft seiner Genossen, in derer wohl vergessen mag, wie ich seinetwegen leide?" Sie erhob sich, wie von einem guälenden Gedanken gepeinigt, und trat wieder an das Fenster, dessen Scheiben halb erblindet waren. „Es muß ein Ende nehmen, ich will mit ihm sprechen." In diesem Augenblick wurde sie durch den eintrctenden Orowicz in ihrem lauten Selbstgespräch unterbrochen. Auch er hatte sich seitdem merklich verändert; zwar war seine. Gestalt noch so stattlich wie sonst, seine Züge aber halten eine geringe, doch unangenehme Umwandlung erfahren. Mußte man sie früher männlich-kraftvoll nennen, so lagerte jetzt ein Auflug von Nohheit auf ihnen, wie man ihn nur bei sehr gewaltthätigen und selbstsüchtigeil Menschen findet Praskowia, die kaum vor einer Minute noch daran gedacht hatte, ihn mit zärtlichen Vorwürfen zu empfaugeu, siel ihm freudig um den Hals, nahm ihm den Mantel ab rind war auf jede Weise bemüht, ihm ihre liebevolle Sorgfalt zu zeigen. „Du hast dich wieder eiu wenig verspätet," sagte sie leise, als fürchte sie, mit diesen Worten seinen Unwillen zu erregen, während sie aus dem dampfen- den Kessel ihm ein Glas Thee abgoß. Der Angesprochene warf sich aus das Sopha und goß erst sorgfältig Rum in das Glas ehe er antwortete: „Die alte, verdrießliche Geschichte, mein Kind, man ist nie Herr seiner Zeit!" Praskowia strich schmeichelnd mit der Hand über seine erhitzte Stirn und schob ihm das volle Glas hin, in das er nochmals Reim goß, um es dann in einem Zug zu leeren. Praskowia füllte esanfsneue; sie dachte nicht daran, selber zu trinken. „Du darfst nicht daran denken, wenn du bei mir bist, sind wir nicht glücklich?" „Gewiß, Täubchen, setze dich zu mir her und schenke mir wieder ein! Du bist ja immer so gut!" „Sprich nicht so, mein Geliebter"! unterbrach ihn Praskowia und umschlang seinen Hals „Nein, nein, es ist wahr! Dn hast ein sorgenloses Leben meinethalben gegen ein so elendes vertauscht." Seine Blicke schweiften mißmuthig und verächtlich zugleich über die verwitterten Wände. „Ich dachte freilich, dir ein anderes verschaffen zu können, aber so viele widrige Umstände hatten sich gegen »'ich verschworen. Ich will dir nicht etwa einen Vorwurf machen, aber die Art und Weise, wie ich.mich der Mission bezüglich deiner Familie entledigt, hat meine Stellung erschüttert!" »Ich habe mir schon längst im Stillen darüber Vorwürfe gemacht,mein Schascha, aber bedeute, wenn wir nur eines am andern nicht wankend werden, wenn wir Genüge in unserer Liebe finden wie bisher, dann gibt es keinen Wechselfall des Lebens, der uns in Wahrheit unglücklich machen könnte!" „Du bist mein wüthiges Weib, Praskowia, aber deine Worte können in mir nicht das Bewußtsein auslöschen, daß ich au dir unrecht gehandelt habe, ja gewiß," wehrte er ab, als sie ihn unterbrechen wollte — „ungerecht, und das ist noch ein mildes Wort für meine Handlungsweise." „Martere mich nicht mit solcher Rede," rief Praskowia aus, „dn weißt, daß ich sie nicht verdiene! du. weißt, daß ich keinen anderen Wunsch kenne, als den, nur dir für immer anzu- gehören!" „Ich weiß, dein Edelmnth ist unbegrenzt, desto verbrecherischer wäre es aber von mir, ihn weiter zu mißbrauchen!" „Ich verstehe nicht, was diese Worte bedeuten sollen, Schascha," unterbrach sie ihn ängstlich und suchte seinen Blick,

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