Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1893

26 König und Deutschland absolut nicht existire, Belgien lege sowohl in Afrika wie Europa den größten Werth auf die freundschaftlichen Beziehungen zu Frankreich und würde seine Neutralität niemals aufgeben — eine gründliche Widerlegung. Der Besuch des deutschen Kaisers in Amsterdam scheint nicht ohne allen Erfolg geblieben zu sein, denn einige Monate nachher erklärte sich die holländische Regierung zu Gunsten der allgemeinen Wehrpflicht und zur Ernennung eines Generalcommandanten im Krieg und Frieden. In Brüssel brannte am 22. Jänner das Palais des Herzogs von Arenberg, einer der ältesten Monumentalbauten, nieder; unersetzliche Kunstschätze wurden dadurch vernichtet. Das Land ist übrigens ohnedies in großer Aufregung durch die fortwährenden Ausstände der Arbei:er- bevölkerung, die in Belgien durch die seit Jahren herrschende Regierungspartei wie in keinem anderen Staat in ihren Rechten geschädigt wird. Die Arbeiter verlangen das allgemeine Stimmrecht und die Liberalen eine Revision der Verfassung, welche auch von den Ultramontanen, damit sie in ihrem Sinn ausfalle, selbst in die Hand genommen wurde. Der König will aber das Recht, sich auch direct an die Wähler wenden zu können — das Referendum — behaupten und Mitte Mai stimmte ihm die Deputirten- kammer bei. Mitte Juni begann die große Wahlschlacht zwischen Clericalen und Liberalen, und den letzteren gelang es endlich, wenn auch nicht die Majorität, doch wenigstens die Alleinherrschaft der ersteren zu brechen. Für das Land wird dies nur von den besten Erfolgen begleitet sein. Spanien und Aortugak. Hervorragende politische Ereignisse hatten sich in diesem, unter der weisen und milden Regierung der Königin-Witwe mehr und mehr aufblühenden Königreich nicht begeben. Zu beklagen ist es nur, daß durch die nachsichtige Behandlung der politischen Fractionen der Anarchismus sich im Lande mehr und mehr ausbreitet. Die Anarchisten wüthen mit Gift, Messer, Revolver und Dynamit, dringen in die Kirchen, morden die Beter und den Priester am Altar und konnten sich im Januar sogar der Stadt Xeres bemächtigen, wo sie schauderhaft hausten. Die Regierung mußte endlich ein Exempel statuiren lind verurteilte mehrere dieser Wüthcriche zum Tode. Die Dynamitattentate begannen trotzdem in Madrid. In Portugal währt nach Niederwerfung des republikanischen Aufstandes die finanzielle Krisis fort. Der König opferte 20 Procent seiner Civilliste, die ohnedies eine sehr mäßige ist. Schweiz. Die Revision der Bundesverfassung in Betreff Einführung der Initiative wurde mit 168.308 gegen 116.824 Stimmen angenommen. Mit großer Begeisterung wurde am 2. August in allen Städten des freien Schweizerlandes das Bundesfest gefeiert. Dagegen rief die Katastrophe von Meiringen allgemeine Betrübniß und Theilnahme hervor. Das reizend gelegene Dorf im Berner Oberland wurde am 26. October beinahe ganz ein Raub der Flammen. Eine befremdliche Erscheinung waren die vielen Defraudationen und Bankkrisen in diesem durch seine Solidität bekannten freien Staat. Hlußkand. Dieses unglückliche Land, dessen Bevölkerung vom Despotismus entnervt und entartet ist, wurde im abgelaufenen Jahre nun auch noch von einer beispiellosen Hungersnoth infolge der Mißernte und zwar in den fruchtbarsten Districten heimgesucht. Rußland - die Kornkammer- Europas — kann die eigenen Bewohner nicht mehr ernähren und während Millionen Puds Getreide aus anderen Districten ausgeführt werden, durchziehen ganze Schaaren hungernder Bauern bettelnd das Land Derartige Gegensätze konnten sich nur unter einer despotischen und gänzlich corrumpirten Regierung entwickeln. Graf Tolstoi, der sonderbare Schwärmer und edle Menschenfreund, entwarf von dieser Hungersnoth ein geradezu haarsträubendes Bild. Gerade das fruchtbarste Drittel Rußlands, welches die übrigen zwei Drittel mit Brod versorgte, wurde von der Mißernte heimgesucht. Es war also selbstverständlich, daß schließlich Alle Mangel an Brod hatten. Wie war es nun also möglich, daß kurz nach der Ernte die Speicher in den meisten Hafenstädten mit Getreide überfüllt sein konnten und daß zuerst die Ausfuhr von Gerste und Roggen und dann auch die von Weizen verboten werden mußte. Eine solche Wirthschaft war eben nur in einem despotisch regierten Land möglich, wo alle Ernteberichte nach dem Interesse des Einzelnen gefälscht werden. .Die Mißernten sind übrigens schon seit Jahren nichts Neues mehr. Der russische Bauer ist der Schnapsepidemie verfallen und arbeitet am Feld nur im äußersten Nothfall. Nur in den Gegenden der schwarzen Erde, wo die deutschen Colonisten ansäßig sind, liefern die Ernten stets ein gleich mäßiges Erträgniß, was aber sobald wie möglich verschifft wird. Die russischen Bauern mußten, um ihr Leben zu fristen, ihr Saatkorn aufessen, dann das Vieh und das Inventar zu Spottpreisen verkaufen. Ein Pferd wurde um zwei, eine Kuh um einen Rubel hergegeben. Es M also vorauszusehen, daß das kommende ^ahr noch trostlosere Aussichten eröffnet. Wenn der Bauer früher wenig gearbeitet hat, so wird er jetzt ohne Saatkorn, ohne Vieh und Jnventar gar nichts thun. Die Regierung hat zwar hundert Millionen Rubel zur Linderung der Noth angewiesen, Millionen Puds Getreide augekauft; in den großen russischen Städten wurden öffentliche Sammlungen Concerte rc. veranstaltet, allein das Geld blieb zum größten Theil in den Taschen der vermittelnden Beamten hängen und das gesauste Getreide war gefälscht und konnte wegen Mangel an Communications- nlitteln nicht nach den Hungerdistricten befördert werden. Es brachen der Hungertyphus und epidemische Krankheiten im ganzen weiten Nothgebiet und auch in der Armee aus. Die Einwirkungen auf den Staatshaushalt werden nicht ausbleiben. Infolge des furchtbaren Steuerdruckes ist zwar endlich in den letzten zwei Jahren das Gleichgewicht in den Einnahmen und Ausgaben hergestellt worden, allein da wo nichts mehr zu finden sein wird, hat auch der Czar sein Recht verloren. Das russische Finanzbudget weist von 1880 bis 1889 ein Deficit von Rubel 438,929.803 auf; die Aufstellungen von ! 890 -189! sind durch die Geschicklichkeit des Finanzministers . Wyschnegradski nur künstlich gruppirt, aber dieses Taschenspielerstücklein wird für 1892 und folgende Jahre nicht mehr blenden. Thatsache ist es, daß Rußland zur Verzinsung seiner Staatsschuld allein jährlich 266,146.192 Rubel bedarf. Allerdings trägt die Branntweinsteuer in Rußland 274,919.969 Rubel jährlich, aber auf welcher Culturstufe muß ein Volk stehen, das eine so ungeheuere Consumsteuer ertragen kann; während es für Cultusausgaben (Volksschulen, Unterricht) nur die bescheidene Summe von 11 Millionen verwendet Nahezu ein Drittel der gesammten Staatseinnahmen verschlingt die Armee und dabei ist dieselbe noch lange tücht auf der Höhe der deutschen und österreichischen. Der nordische Koloß steht also Gott sei Dank noch immer auf thönernen Füßen. Sein Credit ist jetzt, nachdem die deutschen wie französischen Capitalisten endlich zur richtigen Erkenntniß der heillosen Staatswirthschaft gekommen sind — gleich Null. Schulden kann Rußland keine mehr machen, da Niemand ihm etwas borgt. Es ist also für das civilisirte Europa nur eines zu fürchten, daß sich die Zeiten eines Attilla und Dschingis Chan wiederholen und sich die hungernden Horden dieses ungeheueren Ländergebietes auf die blühenden Staaten Mitteleuropas stürzen und sie verheeren werden. Einer der hervorragendsten französischeil Staatsmänner, dem man gewiß keine Voreingenommenheit gegen Rußland vorwerfen kann, äußerte sich, daß die offenen und geheimen Allianzen keineswegs gegen Frankreich, sondern nur gegen Rußland gerichtet seien. In der verzweifelten Lage in welcher sich diese barbarische Bevölkerung befindet, wird der Czar vielleicht den Moment für g.'eignet halten, seine Welteroberungspläne durchzuführen und in diesem Kampf habe Frankreich neutral zu bleiben, denn im Fall eines Sieges würde es vielleicht das 27 linke Rheinufer, aber gleichzeitig die Oberherrschaft des Czaren erwerben. Eine Niederlage -würde ihm aber die gänzliche Zerstücklung bringen. Sonstige Ereignisse begaben sich nicht in dem weiten Reich; die Komödie, welche in Kronstadt mit den verblendeten Franzosen aufgeführt wurde, baben wir bereits oben geschildert. Die Nachwirkungen äußerten sich in der gescheiterten russischen Anleihe in Paris; die Einsichtsvolleren unter den Franzosen hielten ihre Taschen zu und seither hat sich auch der Enthusiasmus für Rußland gar sehr abgekühlt. r Der alte Staatsminister Giers machte Anfangs October seinem Collegen dem Marchese Rudin: eine Visite doch nur um ihm auf den Zahl! zu fühlen, wie es mit der Anhänglichkeit Italiens an die Tripel-Allianz beschaffen sei. Die Auskunft, die er erhielt, mag ihn wenig befriedigt haben und somit konnte er nichts Besseres thun als die eminente Friedensliebe des Czaren auch bei dieser Gelegenheit her- vorzuheben. Sechs Monate später erkrankten beide leiten- den Staatsmänner des russischen Cabinetes, Giers und Wyschnegradsky. Ob dieselben jemals wieder die Leitung übernehmen werden, ist ungewiß. Merkwürdigerweise wurde Mitte Juni das Getreide-Ausfuhrverbot aufgehoben. Millionen Pud lagen seit Jahr und Tag in den verschiedenen Seehäfen zum Export bereit und im Innern Rußlands herrschte die Hungersnoth. Dergleichen Verhältnisse können nur im Reiche des Czaren vorkommen. Serbien. Hangen und Bangen — in schwebender Pein! kann man wohl von diesem Königreich sagen, nachdem es sich von seinem freundnachbarlichen Großstaat mehr und mehr entfremdet hat und in der umstrickenden Umarmung des fernen weißen Czaren sein Heil zu finden glaubt. Es geht seit dieser Zeit drunter und drüber jenseits der Save, aber leider nicht zum Wohl des Volkes, das die Last der Steuern ebensowenig, wie die politischen Aufregungen vertragen kann. Am 22. Juli trat der junge König seine Fahrt nach Moskau und Petersburg an, um dem mächtigen russischen Kaiser seine persönliche Huldigung darzubringen. Dieser Act der Höflichkeit wäre als solcher ganz überflüssig gewesen, denn Serbien sonnte auch ohne denselben in Frieden und Freundschaft mit Rußland leben; aber die Machthaber in Belgrad hielten ihn für erfor- derlich, um ihr Vasallenthum dadurch zu bekräftigen. Die Aufnahme soll trotzdem eine ziemlich kühle gewesen sein und stach von dem Empfang, den der junge König von unserem Herrscherhaus in Ischl erfuhr, wesentlich ab. Im Uebrigen erklärten die Machthaber diese Reise als nur zu Studienzwecken unternommen, weshalb sie ancs; auf Frankreich und Deutschland ausgedehnt wurde.

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