Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1893

24 mit Ohrfeigen tractirte. Constans entschuldigte sich zwar vor den Deputirten und erhielt auch ein Vertrauensvotum, aber die nächste Folge war doch der Sturz des Gesammtministeriums. Am 16. Februar erlitt das Cabinet Freycinet in der Kirchenfrage eine Niederlage und dankte am anderen Tage ab. Nach langen Verhandlungen kam ein neues mit Loubet an der Spitze zu Stande. Der thatkräftigste Minister Frankreichs, Constans, wurde ausgeschlossen und es begann nun Ende Februar die Reihe der Dynamit-Attentate zuerst vor dem Palais der Fürstin Sagan. Diesen folgten in schneller.Reihenfolge noch mehrere andere bis zu dem in der Nile Clichy, wo sechs Personen verwundet wurden Die Polizei entfaltete große Rührigkeit, verhaftete und wies gegen 200 Anarchisten aus und wurde auch des Rädelsführer Navachol, der bereits einige Raubmorde begangen, habhaft. In Frank reich wurde die Todesstrafe über anarchistische Attentate verhängt. In Paris herrschte eine förmliche Panik. Dem neuen Cabinet erwuchsen durch die Colonialpolitik Verlegenheiten. Der scheußliche König von Dahomey ging gegen die Franzosen in Afrika angriffsweise vor und die Negierung verlangte einen Credit von drei Millionen zur Absendung von Truppen, was zu heftigen Angriffen führte und die. ganze Haltlosigkeit der Colonialpolitik Frankreichs darlegte. Einer unsterblichen Blamage machte sich der Präsident Carnot durch seinen Besuch eines Wachs- figurencabiuets, in welchem die Kronstädter Zusammenkunft dargestellt war, fchuldig. Er begab sich dann noch zu dem Juwelier, welcher den Stammbaum des russischen Kaisers angefertigt hatte. Der Vertreter des chauvinistischen Comitös erklärte, daß der Czar dieses Geschenk anzunehmen geruht habe und der Präsident der französischen Republik erwiderte darauf, dies sei nicht bloß eine große Ehre, sondern, auch ein Beweis der Freundschaft Sr. Majestät. Weiter kann man die in tiefster Ehrfurcht ersterbende Devotion schon nicht mehr treiben. Uebrigens haben sich die französische Justiz und die eingeschüchterten Geschworenen bei Rußland keinen Stein im Brett durch die milde Behandlung Ravachol's erworben. Dieses Ungeheuer wurde nicht einmal zum Tod, den er durch seine eingestandenen Verbrechen zehnfach verdient hat, verurtheilt. Den Anarchisten schwoll dadurch der Kamm und am 26. April wurde die Restauration Very, durch Ravachol's Genossen in die Luft gesprengt. Eigentlich war es aus den Kellner Lherot abgesehen, aber es fielen wieder mehrere Unschuldige dem Attentat zum Opfer. Very wurde am schwersten verwundet und starb auch am 10. Mai. Der gefürchtete l. Mai verlief übrigens ganz ruhig, Paris war förmlich verödet und es mußte als eine förmliche Störung der Ruhe Europas erscheinen, daß den ganzen Monat hindurch eine Anarchistenversammlung nach der anderen ungestört in Paris abgehalten werden konnte. Bei einer derselben erklärte ein gewisser Couthien ganz ungenirt: Wenn Ihr Geld braucht, so nehmt es, wenn Ihr deshalb auch mordeu müßt. Und das hörte der anwesende Polizeibeamte in aller Ruhe an. Die mit den Haaren herbeigezogenen Demonstrationen der böhmischen Sokolisten auf dem Turnerfest in Nancy (6. bis 8. Jnni), das sogar durch den befohlenen Besuch des russischen Großfürsten Constantin verherrlicht wurde, können in jedem vernünftigen Politiker nur ein mitleidiges Lächeln Hervorrufen. Diese unbesonnenen Burschen würden die Knute schwer empfinden, wenn die von ihnen ersehnte Herrschaft des russischen Czaren einmal über sie kommen würde. Am 23. Juni wurde der mehrfache Mörder, Dieb und Dynamitarde Navachol in Montebrison zum Tode verurtheilt. Sein Vertheidiger versuchte, ihn mit der Gloriole des anarchistischen Märtyrerthums zu schmücken und plaidirte sogar für die Freisprechung dieses Scheusals. Ein charakteristisches Zeichen für die Civilisation der französischen Republik! Am selben Tage erstach der Profesfions- Duellant Marquis Mords den wackeren Ofsicier Mayer im Duell aus nichtiger Ursache. Dem Gefallenen wurde ein pompöses Leichenbegängmß zu Theil, und Minister Freycinet verurtheilte in der Deputirtenkammer aufs. Schärfste die confessionellen Conflicte, denen dieser hoffnungsvolle Officier zum Opfer gefallen. Mords wurde verhaftet. Kngland. Die Politik des englischen Cabiuets bewegte sich auch im abgelaufenen Jahr in den traditionellen Schranken, welche das eigene Interesse auferlegt. Trotz des Enthusiasmus, mit welchem Kaiser Wilhelm II in den Julitagen vom englischen Volk ausgenommen wurde, hat sich die Negierung doch zu keinen offenen Verbind lichkeiten herbeigelassen, obwohl nicht zu verkennen ist, daß die Tendenzen des Dreibundes zur Erhaltnug 'des europäischen Friedens auch die Englands sind. Dies gelangte auch in der Thronrede, mit welcher am 6. August das Par- lauient geschlossen wurde, zum Ausdruck. Die Königin 'ließ durch den Lord-Kanzler verkünden, daß die Beziehungen zu allen Mächten friedliche und freundschaftliche seien. Damit ist der Hinweis geliefert, daß die Regierung keine Veranlassung geben will, diese Beziehungen zu trüben. Auch die Disferenzeu, welche mit den Vereinigten Staaten Nordamerikas wegen des Robbenfanges im Behringsmeer, mit Portugal und Italien wegen Begrenzung der gegenseitigen Länderbesitze in Afrika noch bestailden, sollen durch Schiedsgerichte beseitigt werden. Ebenso vorsichtig hat sich England beim Besiich der sraiizösischen Flottenescadre am 19. August benonimen. Die Königin beehrte 1 dieselbe mit ihrem Besuch und empfing die französischen Officiere in Osborne, welchen gleichzeitig die Besichtigung der großartigen Arsenale unb Werften gestattet wurde. Eine imposante Flottenmacht wurde den Franzosen vorgesührt und die „Times" schrieb: Die französische Marine nimmt den zweiten Platz nach uns ein, sie kann darauf stolz sein; aber wir hoffen, daß sie es aufgegeben hat, die erste Nation der Welt sein zu wollen. Dieser Ehrgeiz würde nur den Frieden Europas stören und wir können unseren Nachbarn deshalb versichern, daß wir uns niemals mit Jenen verbinden werden, die denselben stören würden. Der Tod des Führers der irischen Partei, der am 7. October in Brighton so plötzlich erfolgte, erregte in Irland allgemeine Bestürzung. Charles Stewart Parnell, der ungekrönte König von Irland, hatte erst das Aller von 46 Jahren erreicht, stand aber schon seit 16 Jahren an der Spitze der irischen Bewegung. Sein Ziel war ungefähr dasselbe, was die Jungczechen bei uns anstreben: vollständige legislative Unabhängigkeit Irlands imb ein irisches Parlament Einen weiteren Verlust erlitt die englische Diplomatie durch den Tod Sir William White's, der s'ch als Botschafter in Constantinopel große Verdienste erworben hatte. Er starb auf der Durchreise in Berlin am 28. December. Den schmerzlichsten Verlust erlitt aber die englische Dynastie durch das plötzliche Dahiu scheiden des ältesten Sohnes des Prinzen von! Wales — Herzog Albert von Clarence, der am ; 14. Januar im Alter von 28. Jahren starb Dieses Ereigniß war um so schrecklicher, als der Prinz sich erst kurz vorher mit der liebenswürdigen Prinzessin Mary von Teck verlobt hat. Ganz England war in Trauer, denn man hatte große Hoffnungen auf diesen Thronfolger gesetzt. Am selben Tag starb Cardinal Manning, der im Jahre 1860 zum Katholicismus übergetreten, der eifrigste Vertreter der päpstlichen Jnfallibilität und der Hort der englischen Katho- liken war. Dieser Tcdtenchronik reihte sich am 4. Februar auch Dr. Sir Morell Mackenzie an, der durch seine Behandlung des unvergeßlichen Kaisers Friedrich II. einetraurige Berühmtheit erlangt hat. Einen Meisterzug diplomatischer Kunst vollführte Lord Salisbury in der ersten Hälfte der Apriltage. Der neue Khedive zeigte sich den Engländern nicht sonderlich geneigt und Frankreich, das es seinerzeit unklugerweise verabsäumt gemeinschaftlich mit England in Egypten Fuß zu fassen, suchte dies nachträglich zum Theil ein- znholen, indem es in Constantinopel dahin intriguirte, daß der Großsultan in der Styli- sirung des Investitur-Fermans die Sinai-Halbinsel für ein unmittelbar türkisches Gebiet erklärte, dadurch wäre ein türkischer Pasten auf dem Weg zwischen England nnb Indien geschaffen worden, was mit der Zeit sehr unbequem hätte werden können. Der edle Lord verhinderte aber 25 im letzten Moment die Publicirung des Jrade und bewog den Khedive zur Bitte: das Sinai- gebiet bei Egypten zu belassen. Diese Bitte wurde so kräftig befürwortet, das der Groß- sultaii sie wohl oder übel erfüllen mußte. Damit wurde der französisch-rnssischen Diplomatie ein empfindlicher Schlag versetzt, das Prestige Englands im Orient aber neuerdings erhöht, indem es Egypten vor einer Schwächung bewahrte. Ar. Zklackenzie f. archisten dort ein Asyl finden konnten. Am 2. Mai hielten sie im Hyde-Park ganz ungescheut ein Meeting ab, in welchem sie offen ihre Umsturzpläne darlegten. Für Menschen, die aus dem Massenmord kein Hehl machen, sollte das Asylrecht doch keine Giltigkeit haben. , Die Auflösung des Parlaments, welche tm Juli erfolgen wird, dürfte große Wahlkämpfe zwischen Conservativen und Liberalen hervor- rufen. Ackgien und KoKaud. Das Gerücht, zwischen Belgien und Deutsch- land bestünde ein. geheimes Schutzbündniß, da ersteres besorge bei einem ausbrechenden Kriege einfach von Frankreich annectirt zu werden, fand am 9. October durch ben Bürgermeister von Brüssel Mr. Bnls - der als Gast in Marseille erschienen war, wo der Ministerpräsident Frey- cinet auf einem Bankett eine lange politische Rede hielt, die Mr. Buls mit der Erklärung beantwortete, daß ein geheinrer Vertrag zwischen seinen!

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