Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1893

22 23 hervorgehen. In der ersten Sitzung plaidirte Jmbriani für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und daß die Entscheidung über Krieg und Frieden nur diesen und nicht den Herrschern zustehen solle. Der Franzose Hubbard stimmte bei; unser Freiherr v. Pirquet bemerkte aber, in einer Friedensconferenz solle man nicht vom Krieg sprechen, sondern über die Mittel berathen, wie die Völker ihre Angelegenheiten nach dem Grundsatz der Wahrheit und Billigkeit friedlich austragen können. Zunächst wurde die Stabilität dieses Congresses und die Organi- sation eines Schiedsgerichtshofes beschlossen. Der Congreß hielt am 7. November seine letzte stürmische Sitzung ab. Am 1t. November wurde dann ebenfalls in Rom der dritte internationale Friedens- congreß eröffnet, auf welchem auch die KriegsVossini f. feindin Bertha v. Suttner erschienen war. Sie hielt eine für den Frieden begeisterte Rede, die in allen Herzen Wiederhall fand und ihr auch den Vorsitz eintrug. Es wurde dann eine Volksbewegung gegen die stehenden Heere, die Abrüstung, die Errichtung eines Schiedsgerichtshofes, eine Adresse an den Czaren: seinen Völkern eine Verfassung zu geben, die Errichtung einer internationalen Studenten-Propaganda zu Gunsten der Friedensbewegung, die Wiederherstellung des polnischen Reiches und noch viele andere schöne Projecte beschlossen, zu deren Ausführung dem Congreß leider nur die Macht zu wünschen ist. Gegenüber diesen utopistischen Friedensbestrebungen zeigten sich leider weder im Parlament noch im italienischen Cabinet ähnliche Tendenzen. Es herrschten dort fortwährende Aufregungen und Kämpfe gegen die Regierung und infolge der ungünstigen Finanzlage des Reiches kam es am 14. April zu ernsten Conflicten zwischen dem Kriegs- und Finanzminister, da ersterer wieder 40 Millionen zur Anschaffung des kleinkalibrigen Gewehres verlangte, die Letzterer verweigerte. Das Gesammt- ministerium reichte seine Entlassung ein, der König betraute aber Rudini sofort mit der Neubildung des Cabinets. Nach langen Verhandlungen trat aber bloß der Finanzminister Colombo aus demselben und Luzzati übernahm provisorisch wieder dessen Portefeuille. Der Ansturm gegen Rudini währte übrigens fort und nachdem der gewesene Finanzminister Gioliti sich in der Kammer gegen das Ministerium wandte, fiel dasselbe. Rudini war stets ein treuer Freund der Tripel-Allianz gewesen, aber Italien ist finanziell nicht stark genug, um die kolossalen Opfer, welche die Erhaltung derselben seinerseits fordert, noch länger zu tragen. Gioliti bildete nun am 13. Mai ein neues Cabinet, das aber im Parlament auch keine günstige Aufnahme fand und sich, nur mit einer schwachen Majorität behaupten kann. Das Königspaar reiste mit dem neuen Minister Brin am 17. Juni nach Berlin, wo es von Kaiser und Volk mit aufrichtiger Sympathie empfangen wurde. Am 29. Februar 1792 erbickte der Schwan von Pesaro — Gioachimo Rossini — das Licht der Welt. Sein Todestag wurde aller Orten feierlich begangen. Der Componist des „Barbiers" und „Tells" wird auch nach weiteren 100 Jahren noch immer gefeiert werden. Arankreich. Bismarck hat seine staatsmännische Weisheit bewährt, indem er nach dem Sturz des Kaiserreiches die republikanische Negierungsform in Frankreich begünstigte. Ein Napoleonide, Bourbone oder Orleanide würde den französischen Revanchegelüsten nicht lange widerstanden oder seinen Thron eingebüßt haben; die verschiedenen republikanischen Parteien und Fractionen können sich nun gegenseitig die Hörner abstoßen, in der Hauptsache entscheidet doch der Volkswille, der jedem Krieg abgeneigt ist. Man kann deshalb den ehrgeizigen Franzosen gewisse diplomatische Spielereien gönnen und eine solche ist der so pomphaft in Scene gesetzte Ausflug eines französischen Geschwaders unter Führung des Admirals Gervais nach Kronstadt, welcher in den Julitagen als Demonstration gegen den Besuch der deutschen Flotte und des deutschen Kaisers in England inaugurirt wurde. Die erste Station wurde am 6. Juli in Kopenhagen gemacht, wo die Aufnahme infolge der nahen Verwandtschaft des dänischen Herrscherhauses mit dem russischen eine anständige war. Es wurden gegenseitig die üblichen Toaste ausgebracht' und in der Nacbt dampfte das Geschwader weiter. Erst am 23. Juli an das mächtige Rußland entsprang. Nachdem mair sich aber überzeugte, daß diese geträumte Bundesgenossenschaft gar keinen Eindruck auf die Tripelallianz geiuacht hatte, suchte man wenigstens England durch den Besuch der Gervais'- schen Escadre am 10. August sich wieder geneigter zu machen. Das Mißlingen der russischen 600 Millionenanleihe dämpfte auch wieder einiger- maßeii den Enthusiasmus, der durch den Besuch des Großfürsten Alexis in Bad Vichy neuerdings angeregt werden mußte. Am 9. September starb Jules Grövy, der vom 14. März 1876 bis 1888 Präsident der Republik war. Bekanntlich trat er von dieser hohen Würde wegen zweideutiger Handlungen seines Schwiegersohnes Wilson zurück. Grövy war ein echter Republikaner vom Beginn bis zum Schluß seiner politischen Laufbahn und Ehrenmann vom Wirbel bis zur Zehe. Die Republik ehrte sich selbst, indem sie ihrem vormaligen Präsidenten eine pompöse Leichenfeier bereitete. Die am 16. September erfolgte Aufführung des Wagnerischen „Lohengrin" gab den deutschen Hetzern in Paris wieder einmal Gelegenheit zu einer unsterblichen Blamage. Der Führer derselben, der später von Constans geohrfeigte Boulangist Laur, hatte erklärt, für Wagner's Musik begeistert zu sein, da aber Wagner unglücklicher Weise ein Deutscher fei, so müsse er ausgepfiffen werden. Damit ist dieser Blödsinn wohl am besten charakterisirt Die Polizei schritt übrigens am Aufführungsabend energisch gegen die Ruhestörer ein und der Energie des Directors der Großen Oper gelang es, noch zahlreiche Aufführungen mit Van Dyk durchzusetzen. Uebrigens hat Präsident Carnot dieses tolle Treiben genügend verurtheilt. Einen schmerzlichen Eindruck hinterließ der Tod des entthronten Kaisers von Brasilien, Dom Petro II., der im 66. Lebensjahr am 6. December in Paris dahinschied. Er überlebte die über ihn verhängte Verbannung nur zwei Jahre und hatte die Genugthuung, daß sein Land, für dessen Aufblühen er so viel geopfert und das er so geliebt, durch das neue Regime nichts gewonnen hatte. Mit der "Mitte December erfolgten Ausweisung des französischen Journalisten Chadourne aus Sophia hatte die bulgarische Regierung die Eitelkeit der Franzosen empfindlich verletzt. Es ' wurde zwar nachgewiesen, daß Bulgarien voll- kommen berechtigt zu dieser Ausweisung war, . aber des lieben Friedens halber gab endlich > Herr Stambulow eine befriedigende Erklärung , ab und die Affaire, die so viel Staub aufge- : wirbelt hatte, wurde nach langen diplomatischen - Verhandlungen gütlich beigelegt. , Am 19. Januar ereignete sich die scandalöse Scene zwischen Minister Constans und dem - Boulangisten Laur in der französischen Kammer. Letzterer beleidigte wiederholt den Ersteren, bis diesem die Geduld riß und er den Angreifer gelangte es in Sicht von Kronstadt, wo nach c russischer Weise der feierlichste Empfang beordert i war. Wir unterlassen eine abermalige Schilde- S runa all der tollen Festlichkeiten, welche den 5 Franzosen während ihres Aufenthaltes in Ruß- s land bereitet wurden. Trotzdem der Czar in ) seinen Gästen die ganze französische Nation > feierte und sich mit derselben anfs Engste be- k sreundet erklärte - trotzdem ihm Admiral Ger- > vais Namens derselben erklärte, Frankreich (in . seiner Jsolirtheit) könne im Bunde mit Seiner 1 „arischen Majestät der ganzen Welt trotzen — ist doch noch niemals eine ärgere Komödie gegen- i seither Täuschungen aufgeführt worden. Hinter ! dem ganzen feierlichen Willkomm steckte zu- ' nächst der russischeFinanzministerWyschnegradski, der außer dem französischen Geldmarkt keinen anderen mehr für seine Massenanleihen offen . hat? In der That war die erste nüchterne Antwort auf die gegenseitige Bejubelung die Auflegung einer russischen Anleihe von 300 Millionen in Paris. Und in Frankreich dürfte doch schwerlich ein vernünftiger Mensch glauben, daß Rußland die Knochen nur eines seiner Kosaken opfern wird, um Frankreich wieder zu Elsaß- Lothringen zu verhelfen. Damit wollen wir den Bericht über diese widerwärtigeKomödie schließen. Die Russen haben für acht Tage die Marseillaise brüllen dürfen. Ist das keine Komödie? Am 18. Juli starb Madame de Bonne- main, die Freundin des ci-devant Generals Boulanger Wir würden dieser Dame keine höhere Wichtigkeit beilegen, aber sie hatte ihrem Geliebten die Zinsen von 1,200.000 Francs zur Verfügung gestellt und mit ihrem Tode hörte diese Rente auf. Der brav' Gendral gerieth dadurch ganz aufs Trockene und es blieb ihm nichts Anderes als der Selbstmord übrig, den er auch am 30. September auf dem Friedhof in Brüssel auf dem Grab seiner Maitresse voll- führte. Der Tod der Frau Bonnemain war also doch von Bedeutung für die Geschichte Frankreichs: denn man kann nicht wissen, was Mr. Boulanger noch Alles gegen die Republik vollführt haben würde. Im Uebrigen hatte er sich durch seinen Lebenswandel und seine Abenteuer schon längst als Agitator unmöglich gemacht. .Er starb unwürdig, wie er unwürdig gelebt hatte. Am 26. Fuli fand in St- Mands bei Paris durch sträflichen Leichtsinn ein furchtbares Eisenbahnunglück statt, dem 43 Todte und ungezählte Verwundete zum Opfer fielen. Die Rede, welche Minister Constans am 9 August in Suchon hielt, athmete nichts als Frieden und Versöhnung. Wir sind auch überzeugt, daß sie denselben ernstlich erhalten will und nur jene Condottieri der Boulangisten und Dorould- disten, die zu einer Stellung gelangen möchten, sind der Republik gefährlich. Nach der Kronstädter Affaire gerieth allerdings ganz Frankreich in eine hochgradige Aufregung, die ans dein Gefühl eines Anschlusses

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