18 19 sichtiger wie dieser seine Offenherzigkeit. mit jahrelanger Kerkerhaft büßen mußte. In vielen deutschen Städten wurde dieser Gedenktag feierlich begangen. Die am 13. October erfolgte Glückwünschung Virchow's zu seinem 70. Geburtstag gestaltete sich zu einer Nationalfeier zu Ehren eines Mannes, der gleich groß als Gelehrter, wie durch seine Gesinnung und Haltung als Politiker dasteht. Der nicht minder berühmte Gelehrte Professor Helmholtz beging ebenfalls zur selben Zeit die Feier seines 70jährigen Geburtstages und erhielt vom deutschen Kaiser den Titel eines Obergeheimrathes mit dem Prädicat Excellenz. Der Oberbürgermeister von Berlin Max v. Forckenbeck war der dritte der Siebenziger, König Kart v. Württemöerg f. per Dichter Schuvart. der am 22. October die Glückwünsche der unter seiner Leitung großgewordenen deutschen Hauptstadt entgegennehmen konnte. Mit Ende October trat der große deutsche Buchdruckerstreike in Scene. Die Setzer und Drucker wollten die 9stündige Arbeitszeit dadurch erzwingen, was die Arbeitgeber unmöglich zugeben konnten. Zwei Monate beinahe hielten die Streikenden aus, iya Millionen Mark wurden darauf verwendet, aber schließlich bewährte sich auch diesmal diese socialdemokratische Kraftleistung nicht und sie lieferte nur den Beweis, daß auf diesem Wege die sociale Frage nicht zur Lösung gelangen wird. Am 31. October hielt sich die kaiserliche russische Familie bei ihrer Rückkehr von KopenHagen nur einige Stunden in Königsberg auf und setzte ihre Reise nach Petersburg fort. Aus einer Zusammenkunft mit dem deutschen Kaiser- ist also nichts geworden. Mit der Ernennung des Propstes v. Stablewski zum Erzbischof von Posenist wieder eine brennende Frage gütlich gelöst worden. Er gelangte zu dieser hohen geistlichen Würde im Alter von erst 60 Jahren durch sein Wissen und seine priesterliche Duldsamkeit. Diese Ernennung war auch von politischer Trogweite.. In den Octobertagen befand sich Berlin durch den Sturz der alteu Bankhäuser Hirschfeld u. Wolf, der Brüder Sommerfeld u. And. in hochgradiger Erregung. Namenloses Elend wurde durch die Verschwendungssucht und ,leichtfertige Speculationswuth der betreffenden Bankiers in die Bevölkerung getragen, da Hoch und Niedrig derselben ihr Vermögen anvertraut hatten. Gleichzeitig mit dem österreichischen wurden auch dem deutschen Abgeordnetenhause am 7. December die neuen Handelsverträge vorgelegt. General Caprivi perhorrescirte bei dieser Gelegenheit die Segnungen der BismarFschen Wirthschaftspolitik, der wir schon bei ihrer Einführung kein ersprießliches Ergebniß prophezeit hatten. D:e Erhöhung des Getreidezolles auf 6 Mark konnte in Deutschland nicht länger bestehen, da dadurch alle Lebensmittel vertheuert wurden. Bismarck hatte behauptet, daß die Länder, welche , sich schützen, prospericen, während jene, die offen sind, zurückgehen. Gerade das Gegentheil hat sich in den letzten Jähren herausgestellt. Jedes Land, welches ausführt, muß auch einführen und Deutschlands Industrie hat die volkswirthschaftlicheu Experintente des vorigen Reichskanzlers schwer empfunden, während das Volk durch die Steigerung der Lebensmittelpreise ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wurde. Den besten Eindruck rief die Erklärung Caprivi's hervor, daß die politischen Bündnisse nicht mit einem Wirth- schaftlichen Krieg vereinbar seien, daß die Allianzen der Völker nicht durch die Cabinete sondern aus den Herzen der Völker hervorgehen sollten und daß es im Interesse des deutschen Reiches liege, seine Bundesgenossen schon im Frieden zu stärken. Trotz der Opposition der Agrarier wurden die neuen Handelsverträge von: Reichstag in Monatsfrist durchberathen und deren Einführung am 1. Februar beschlossen. Kaiser Wilhelm II. hielt aus Anlaß der Einweihung des Teltower Kreishauses am 17. December eine Rede, in welcher er die Verdienste des König Wilhelm H. Pie Königin v. Würltemverg. Reichskanzlers Caprivi um das Zustandekommen dieser so wichtigen Verträge rühmend anerkannte und dessen Erhebung in den Grafenstand pnblicirte. Die Thronrede mit welcher am 14. Jänner der preußische Landtag eröffnet wurde, consta tirte einen weniger günstigen Stand der Staats- finanzen durch die Steigerung der Ausgaben für die Staatsbähnen. Am wichtigsten war die Vorlage des Entwurfes eines Volksschulgesetus, wodurch das ganze Land in Aufregung gerieth. Diese Zedlitz'sche Schulvorlage würde der Reaction ein Fundament gewährt haben, auf welchem sie den preußischen Schulliberalismus, der das Laud groß gemacht hat, allmälig vernichtet haben würde. Fürst Bismarck würde niemals seine Zustimmung zu einer solchen Vorlage gegeben haben und die nächste Folge derselben war die Einigung der verschiedenen liberalen Fractionen. Das Ministerium Caprivi, welches sich durch dieses Gesetz die ultramontan-conservative Majorität erkaufen wollte, hat eine gründliche Niederlage erlitten. Der Liberalismus bewährte diesmal seine Macht und nach monatelangen Kämpfen ging er siegreich hervor. Der „Mann des Kaisers", Finanzminister Miquel, bot sofort seine Entlassung an, er blieb aber, da Graf Zedlitz sammt seinem Gesetz fiel. Großes Aufsehen erregte die an: 1. Februar bekanntgewordene Ärmeeverfügung des Prinzen Georg von Sachsen, in welcher die scheußlichsten Mißhandlungen sächsischer Soldaten durch ihre Unterofficiere bekannt gegeben und gegen deren Wiederholung die strengsten Maßregeln angeordnet wurden. Es erschien auffallend, daß gleich darauf in Berlin sehr bedenkliche Ruhestörungen, Einfälle und Plünderungen von Läden erfolgten. Erst nach einigen Tagen konnte der Aufstand durch Aufbietung einer bedeutenden Polizeimacht bewältigt werden. Der Kaiser wurde bei seinem Erscheinen mit Rufen nach Brot und Arbeit begrüßt. Die Socialisten verwahrten sich iin Reichstag ernstlich, irgend welchen Einfluß auf diese Ruhestörungen geübt zu haben. Am 29. Februar beging die national-liberale Partei die Feier ihres 26jährigen Bestandes. Bennigsen, ihr Gründer, hielt die Festrede, welche in Beziehung auf die letzten Vorgänge wehmüthige Anklänge enthielt und das Herannahen der Reaction betonte. Durch Erlaß des Kaisers vom 12. März wurde die Beschlagnahme des Vermögens des depossedirten Königs Georg von Hannover (der
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