Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1893

40 Mäßigkeit die Hauptbedingung. Ihr, Freund Bräunlich, und mit Euch tausend Andere habt die schlechte Angewohnheit, nach dem ersten Frühstück, das Jeder nach seinem Geschmack in Kaffee, Thee oder Cacao — den letzteren empfehle ich besonders — wählen kann, um 10 oder 11 Uhr Vormittags noch ein zweites substantielleres zu nehmen. Das ist nicht allein von« sanitären, sondern mehr noch vom nationalökonomischen Standpunkt aus eine höchst verwerfliche Angewohnheit. Für den Geschäfts- und Gewerbsmann muß dieselbe geradezu als ein Verbrechen bezeichnet werden, das er an sich, den Seinen und dem Volkswohlstand begeht. Es ist ein offenbarer Scandal, daß um 10 oder 11 Uhr — in der besten Arbeitszeit—die Wirthshäuser mit den Frühschopplern überfüllt sind. Die halbe oder ganze Stunde, die er da seinem Beruf entzieht, repräsentirt in einem Lebensalter schon an und für sich ein Vermögen, das aber durch Entgang der Arbeitsleistung eigentlich noch viel größer wird. Der Gewerbsmann, der zum Frühschoppen geht, verliert im Jahre mindestens drei- bis fünfhundert Arbeitsstunden. Er ist nach demselben träge, hat sich den Appetit zum Mittagsmahl verdorben, und ich bestreite deshalb auf das Entschiedenste, daß der Mensch nach dem üblichen Morgeufrühstückselbstbei schwerer Arbeit nicht vier bis fünf Stunden ohne Essen ausbalten soll. Der Arbeiter im Freiea mag bei großer Hitze seinen Durst mit eii e.n Glas Bier löschen und einen Ranken Brot dazu verzehren, aber der Meister bleibe in seiner Werkstatt, der Geschäftsmann in seiner Schreibstube, dann wird ihm auch das Mittagessen um 12 oder 1 Uhr vortrefflich schmecken. Ich habe wenigstens Zeit meines Lebens selbst bei angestrengter Arbeit niemals das Bedürfniß nach einem Gabelfrühstück empfunden und deshalb behaupte ich auch, daß das viele Essen nur eine schlechte Angewohnheit ist. Auch den Nachmittagskaffee oder -Thee halte ich für etwas ganz Ueberflüssiges. Der Mensch hat mit drei Mahlzeiten: Früh, Mittags und Abends, aber nicht zu spät, vollkommen genug. „Nun möchte ich Euch aber auch noch sagen, wie der Mensch essen soll, und leider verstehen das die Wenigsten und ahnen auch gar nicht, daß darin die Quelle so vieler Uebel liegt. Daß man seine Nahrung nicht zu heiß hinunterschlucken soll, versteht sich wohl von selbst, aber daß man auch beim Heißhunger mit Ruhe essen mnß, wird von den Wenigsten beobachtet. Die festen Speisen müssen auf dem Teller gehörig verkleinert und dann sorgfältig gekaut iu den Magen befördert werden. Diesem eigensinnigen Patron darf man bei der Verdauung nicht allzuviel zumutheu. Das Trinkeu während des Essens halte ich nicht für rathsam, ich wenigstens verdünne den Speisebrei erst eine halbe Stunde nach dem Essen mit einigen Gläsern Wasser. Daß man überhaupt im Trinkeu von Bier, Wein oder gar Schnaps noch mäßiger wie beim Essen sein niuß, ist für alle Diejenigen, die achtzig Jahre alt werden wollen, selbstverständlich. Ich war und bin von jeher der Feind alles Extremen gewesen; deshalb will ich vom Vegetarianismus ebensowenig wie von den Teetotalers wissen. Der Wein ist eine edle Gottesgabe und seit Noah's Zeiten zur Erhaltung und Erfreuung des Menschengeschlechtes bestimmt; auch das Bier ist eine heilsame Erfindung, aber der Schnaps sollte nur in den Apotheken als Medi- cament verabreicht werden. „Damit ist mein Capitel über die Mäßigkeit erschöpft. Wir kommen nun an die Abhärtung. Auch darüber werdet Ihr keine absonderlichen Dinge hören; denn ich habe niemals den Ehrgeiz besessen, einen sogenannten Kraftmenschen in mir zu erziehen. Alles, was zu viel ist, schien mir von Uebel zu sein. Zu meiner Jugendzeit war das Turnen polizeilich verpönt und es hat doch kräftige Menschen gegeben. Damit will ich aber die Errungenschaft der Neuzeit nicht verdammen. Das Turnen ist der Jugend als Leibesübung und Kräftigung dringend zu empfehlen, nur sollte man wie aus dem Rudern und Radfahren keinen Sport daraus machen. Unsere Zeit bewegt sich eben sehr gern in Gegensätzen und Uebertreibungen, das zeigt sich auch in den verschiedenen Heilmethoden der Kneipp-, der Prießnitz-, der Schroth-, der Kräuter- und anderen Euren. Ich habe verschiedene solche Fanatiker begraben, die heute noch leben könnten. Da war unser gemeinschaftlicher Freund S. anscheinend ein Riese an Körper und Gesundheit, der aber das Wasserpritscheln bis zum Exceß trieb. Jahraus jahrein wurde er den Schnupfen nicht los, weil er mitten im Winter zwei- bis dreimal täglich iu die Wanne mit eiskaltem Wasser ging. Auch als sich schon die Symptome einer Lungenentzündung zeigten, ließ er nicht ab, und nach drei Tagen war er eine Leiche. Anderen wieder ist jeder Tropfen kalten Wasfers ein Greuel und Entsetzen, und einer meiner leiblichen Verwandten konnte sich bei einem Magenkatarrh zu keiner entsprechenden Diät und zu keinem Prießnitz- Umschlag verstehen, der, zur rechten Zeit angewendet, ein größeres Uebel verhindert haben würde. So gesellte sich ein zweites Leiden dazu, und er war trotz aller ärztlicher Beihilfe nicht mehr zu retten. Was nun diese selbst betrifft, so war und bin ich ein abgesagter Feind alles Medicinirens und habe vor den Doctoren der Heilkunde und ihrer Wissenschaft allen Respect. Aber es geht mir mit ihnen wie mit den Advocaten, ich bin froh, wenn ich sie nicht brauche, und bei meiner Art zu leben war dies auch tvirklich selten genug der Fall. „Ich bin von jeher die Wege der goldenen Mittelstraße gewandelt und habe mich wohl dabei befunden. Mein Haupt- augeumerk richtete ich zunächst auf die Pflege der Haut, denn durch diese lebt der Mensch. Tägliche Abwaschungen des ganzen Körpers mit Seife waren mir unerläßlich, und das Frottireu mit einem feuchten, rauhen Leinentuch jede« 41 Morgen früh noch unter der Bettdecke ist mir zum Bedürstriß geworden. Das ist auch gleichzeitig mein Abhärtungsund Schutzmittel gegen Erkältungen. Bewegung im Freien, täglich wenigstens zwei Stunden, an Sonu- und Feiertagen eine größere Landpartie sind unbedingt nothwendig zur Förderung des Blutumlaufes und der Verdauung." Herr Bräunlich hatte alledem sehr andächtig zugehört und dem ziemlich saueren Eigenbauwein aus Rücksicht für seinen Freund eifrig zugesprochen. Als derselbe aber eine längere Pause machte, meinte er: „Das ist Alles recht schön, und wenn es für mich nicht schon zu spät wäre, möchte ich mir Eure Gewohnheiten auch aueignen; aber darin kann doch Eure gauze Lebeuskunst nicht allein bestehen. Ihr habt ja selbst von Mysterien und Geheimmitteln neulich gesprochen, davon möchte ich gern auch etwas profitiren." Die Frau Frischauf sah erstaunt ihren Mann an, dieser aber erhob sich lächelnd und geleitete den wißbegierigen Freund zu einem Schrank, den er mit einer gewissen Feierlichkeit öffnete. „Dieweil Ihr denn Alles wissen wollt, so werde ich Ench in meinen ganzen Hocuspocus ein- weihen." Damit langte er zunächst nach einer der im Kasten liegenden Leinwandrollen, die er wie Leporello mit einer raschen Handbewegung aufrollte. Es wareu aber keine Conterfeien zahlreicher Schönen darin, sondern das Stück war nur gute sechs Meter lang und einen halben breit und am Ende mit langen Bändern versehen. „Seht, Freund Bräunlich, das ist eines meiner wichtigsten und bewährtesten Hilfsmittel bei Magen- oder Athembeschwerden, Fieberanfällen, Erkältungen, da sie gleich beim ersten Erscheinen damit gebannt und beschworen werden. Das eine Ende wird ungefähr anderthalb Nieter lang in frisches Brunnenwasser getaucht, gut aus- und dann fest um Leib oder Brust gewunden, erforderlichen Falls auch um die Waden. Der Fürsorge wegen

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