Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1892

90 Die Skupschtina bewilligte ihrem früheren Herrscher statt der geforderten sechs Millionen Francs eine Million und damit gab sich Herr Milan auch zufrieden. Seine händelsüchtige Frau Natalie blieb aber in Belgrad zurück und ließ als russische Agentin nach wie vor alle Minen der Intrigue und Cabale springen, um die Herrschaft über ihren Sohn zu erlangen. Die Skupschtina verfügte endlich die Ausweisung, die auch am 19. Mai unter großem Seandal gewaltsam erfolgte. Rumänien erlitt am 16. Mai durch den Tod seines bedeutendsten Staatsmannes, des vor- und mehrmaligen Ministerpräsidenten Ivan Bratiano einen schweren Verlust. 1822 geboren, hat er seit seinem Eintritt in die politische Laufbahn unablässig für die Vereinigung der Fürstenthümer gestritten und auch die Erhebung des Fürstenthums zum Königreich durchgeführt. Er erlebte nicht mehr die Feier der 25jährigen Regierung König Carolas, die im ganzen Lande mit aufrichtiger Dankbarkeit für die Erfolge, welche seine Regierung durch die Culturentwickelung und politische Selbstständig- keit zu erringen wußte, begangen wurde. Bratiano errang seine Erfolge erst, als er sich von der russischen Freundschaft abgewendet hatte, nachdem zum Dank für den Beistand und die Rettung der russischen Armee durch 50.000 Dorobanzen, Rumänien nach dem Frieden das fruchtbare Beßarabien von Rußland abgenommen und dafür die Steinwüste der Dobrudscha aufgehängt worden war. Bratiano wäre gerade jetzt, wo das russische Cabinet wieder durch seine Sendlinge: General Jgnatiew, den Exminister Tricupis und den Fürsten von Montenegro Mitte Juni in Belgrad an einer Balkan-Union arbeiten läßt, sehr am Platz. Glücklicher Weise ist dafür gesorgt, daß diese serbischen Bäume nicht allzuhoch in den Himmel wachsen. Es dürfte nicht ganz Zufall gewesen sein, daß Fürst Ferdinand von Bulgarien am 17. Juni von unserem Kaiser in der Hofburg empfangen wurde. Es war dies das erste Mal, daß der Fürst von Bulgarien als Graf v. Murany diese Räume betrat, vielleicht wird einmal die Zeit kommen, wo er sich unter anderem Namen und Titel vorstellen wird. Wir schließen unsere Jahreschronik mit dem Wunsche, daß die übrigen Balkanstaaten sich das Fürstenthum Bulgarien zum Muster nehmen und gleich diesem ihre volkswirthschaftliche Entwicklung und politische Selbständigkeit anstreben möchten. Hriechenkmrd. Dies kleine Königreich hat sich stets von der Pottttk ab'eits gehalten und ein Versuch, welchen der Minister Delyannis im Jahre 1885 machte, diesem Principe untreu zu werden, indem er der Türkei den §drieg erklärte, endigte kläglich. Trikupis, der dann ans Ruder kam, suchte dagegen die inneren Zustände zu verbessern. Er gestaltete die Armee um, regelte die Finanzen, baute Straßen und Eisenbahnen, über in der äußerenPolitik ging er mit Mäßigung und Vorsicht vor. Das Hellenenvolk will nun um jeden Preis die Befreiung Kretas durchsetzen und trotzdem auch Trikupis schon 1887 energische Noten an die europäischen Mächte deshalb richtete, fand er bei denselben kein Entgegenkommen. Man will eben die orientalische Frage durch keinen Anlaß aufrollen. Bei den Neuwahlen gewann die Opposition eine große Majorität und Trikupis mußte in Folge dessen wieder dem Heißsporn Delyannis den Platz räumen. Hoffentlich wird der Friede Europas dadurch nicht gestört werden, denn der neue Ministerpräsident erklärte ebenfalls, daß die kretensische Frage nur im Eiuverständiß mit den europäischen Mächten gelöst werden könne. Sehr unliebsam machte sich die Ohnmacht der Regierung bei dem Ausstande der griechischen Bevölerung auf Corfu Ende April gegen die dort seit Jahrhunderten angesiedelten Juden geltend. Es war das Märchen des rituellen Kindermordes verbreitet worden und obwohl sich bei näherer Untersuchung heraus stellte, daß statt eines christlichen, ein jüdisches Mädchen ermordet aufgefunden worden war, tobte der allarmirte Pöbel so lange fort, bis die 7000 ansässigen Juden beinahe gänzlich von der Insel ausgewandert waren und dadurch die Ruhe wieder hergestellt wurde. Kürkei. Der Marasmus, in welchen alle despotisch regierten Staaten naturgemäß früher oder später verfallen müssen, schreitet in diesem Lande in seinen zersetzenden Bahnen fort. Der Untergang ist unvermeidlich, wenn nicht im letzten Augenblick noch ein Retter auf den Plan tritt und ein solcher scheint der sonst begabte und gut geartete Padischah Abdul Hamid doch nicht zu sein. Ein in Aberglauben und Fatalismus versunkenes Volk, dem alle Neuerungen, alle selbst- ständige Thätigkeit und geistige Arbeit ein Gräuel ist, bedarf eines tyrannischen Reformators, der es aus seiner Indolenz emporhebt. Die türkische Jahreschronik inaugurirt sich mit der Entführung der österreichischen Ingenieure Gerson und Mejor, welche die Eisenbahn Jsmid Angora bauten und von tscherkessiichen Räubern Überfällen und in die Berge geschleppt wurden und nur gegen ein Lösegeld von 3oM Pfund freigelassen werden sollten. Sie wurden übrigens bald frei und constatirten, daß dies bereits der neununddreißigste räuberische Uebersall beim Baue der anatolischen Bahn war. Eine rühmliche Eigenschaft kann man aber der türkischen Regierung nicht absprechen. Sie zeigt stets den besten Willen, derartige Excesse auszugleichen, besitzt aber nicht die Macht sie zu verhindern. Auch ihre Toleranz in religiösen Fragen ist von jeher eine kluge Maxime gewesen. So hat sie durch Ernennung von drei bulgarischen Bischöfen für Macedonien sich die größten Synrpathien der Bulgaren erworben. Nach der scharfen Note, welche Stambulow kurz vorher an die Pforte gerichtet, konnte man keine. Nachgiebigkeit voraussetzen und in Petersburg ist man über diesen diplomatischen Erfolg geradezu außer Rand und Band gerathen. Die Bulgaren in Macedonien haben aber jetzt ihre ersehnten Oberhirten und der Hoffnung auf Befriedigung ihrer nationalen Bestrebungen können sie jetzt um so eher Raum geben. Ein großesZeichen von Nachgiebigkeit lieferte das ottomanische Cabinet durch die völkerrechtliche Auslieferung eines russischen Emigranten, Wladimir Latzki, der am 24. December durch russische Kawa'ssen und Matrosen in Constanti- nopel gewaltsam auf einen russischen Dampfer geschleppt wurde. Ein Schrei der Entrüstung über diesen brutalen russischen Gewaltact ging durch ganz Europa. Die türkische Regierung hat wenigstens den Polizeibeamten, der dieses Attentat unterstützte, sofort in Untersuchung gezogen und bestraft. Major v. Hülsen überbrachte am 15. Jänner dem Großherrn einen prachtvollen Ehrensäbel nebst einem verbindlichen Schreiben des deutschen Kaisers. Immerhin ein bedeutsames Zeichen! Die Türkei steht am Schlüsse unserer Jahreschronik wie seither auf morschen Füßen. Ohn- wächtig im Innern, ist ihre Erhaltung durch den Dreibund und England doch eine Nothwendigkeit, um den agressiven Gelüsten Rußlands einen Damm entgegenzusetzen. Auf die Länge der Zeit wird dieses System aber doch nicht haltbar sein und vielleicht werden wir in unserer nächsten Jahreschronik von der Wiedererrichtung des byzantinischen Kaiserreiches berichten können. Amerika» Während in den Vereinigten Staaten die politischen wie volkswirthschaftlichen Verhältnisse in höchster Blüthe stehen und Europas Handel, Industrie und Landwirthschaft vor der Con- currenz dieser Republik zu zittern beginnt, ist Südamerika das Opfer heilloser Mißwirthschaft und nationaler Kämpfe. In Brasilien gährt es noch imnrer unheimlich und die depossedirte weise Regierung Kaiser- Don Pedro II., welche das Land glücklich gewacht hatte, zählt noch viele Anhänger. In Buenos Ayres brach am 26. Juli aber der Bürgerkrieg in furchtbarer Weise aus Die Na- livnalbank hatte plötzlich ihre Zahlungen eingestellt, das Goldagio war auf 265 gestiegen und ^ stellte sich heraus, daß in den Staatskassen l00 Millionen Dollars abgängig waren, die in die Taschen des Präsidenten und seiner Anhänger Oeslossen sein sollen. Das saubere Haupt der Regierung, Dr. Celman, floh nach Rosario und 91 es fanden blutige Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und der empörten Bevölkerung statt. Die Jnsurectton gewann Anfangs die Oberhand und ein Theil der Regierungsbataillone ging zu ihr über. General Campos übernahm die Führung und es bildete sich eine provisorische Regierung, welche Senhor Arem zum Präsidenten und Romero zum Finanzminister ernannte. Leider erhielten die Regierungstruppen Verstärkung und der Aufstand wurde wieder bewältigt. Durch eine allgemeine Amnestte gelang es, den Frieden wieder herzustellen, allein die Folgen der Regierungsmißwirthschaft blieben nicht aus. Dr. Celman sah sich endlich doch genöthigt, seine Demission einzureichen und es trat Pellegrini an seine Stelle, dem man mehr Vertrauen zeigt. Auch im Norden herrscht die Corruption, nur in anderer Richtung. Die staatlichen Finanzen sind geregelt aber das Regierungsoberhaupt ist ohnmächtig und ganz in den Händen eines Streberthums, das nur auf egoistische Geldmacherei ausgeht. Der frühere Präsident Cleve- land hatte den Kampf mit den Silberkönigen ausgenommen, aber er unterlag. Gegenwärtig herrschen Mac Kinley und Blaine, die durch förmliche Prohibitivzölle sich volkswirthschaftlich von Europa ausschließen. Die Vereinigten Staaten sind ohnedies des inneren Friedens bedürftig, denn die Jndianer im fernen Westen überfallen die Niederlassungen der Ansiedler und brennen und morden unerbittlich. Die Unionstruppen lieferten in Omaha den Indianern förmliche Schlachten und es bedurfte der Aufbietung starker Militärmacht, um die Rothhäute wieder zur Ruhe und Unterwerfung zu bringen. Auch in Centralamerika bekämpfen die kleinen Freistaaten sich untereinander und in Chile und Peru brachen Mitte Jänner Aufstände gegen die Regierungen aus. Die chilenische Marine revol- tirte und blockirte die Küste zwischen Jquique und Coquimbo. Handel und Wandel wurden zerstört und enorme Verluste bereitet. Die Vereinigten Staaten erlitten durch den Tod des General Shermann einen schweren Verlust. Er war ihr genialster Heerführer, der den Krieg gegen die südstaatlichen Sclavenhalter zum glücklichen Ende führte. Er starb am 16. Februar als Obercommandant des stehenden Heeres im Alter von 70 Jahren. Die Mitte März an italienischen Staatsangehörigen, welche sich bereits in Haft befanden, in New-Orleans verübte Lynchjusttz brächte die Vereinigten Staaten mit Italien in ernstlichen Conflict, der eigentlich noch bis heute nicht beigelegt ist. Zwölf Italiener, welche des Mordes an dem Polizeichef Henessey angeklagt und von der Jury freigesprochen worden waren, hatten eine ungeheuere Erbitterung hervorgerufen, die sich in obigen Excessen äußerte. Auch in Centralamerika. Chile und den Süd- statten wüthete der Bürgerkrieg noch fort.

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