Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1892

88 89 Nach der gewaltsamen Russifieirung der Ostseeprovinzen kommt nun Finnland an die Reihe. Als Rußland diese Provinz den Schweden entrieß, gelobte der Czar, die Staatsgrundgesetze und Unabhängigkeit Finnlands zu wahren. Noch Alexander I. erklärte diese Verfassung für unantastbar und die folgenden Kaiser, selbst der Tyrann Nikolaus bestätigte es. Für Alexanders ist dies ohne alle Bedeutung. Zunächst wird die Russifieirung der Schulen in energischer Weise durchgeführt, die Staatsgrundgesetze Finnlands werden als veraltete schwedische Gesetze erklärt, zu deren Haltung Rußland nun auf einmal nicht verpflichtet sei. So herrscht überall die grausamste Willkür. Die unerhörten Bedrückungen, welchen die jüdischen Unterthanen ausgesetzt sind, veranlaßten die Londoner Gesellschaft, an deren Spitze der Cardinal Maning, viele Bischöfe und Herzoge stehen, zu einer Bittschrift an den Czaren, die ihm Mitte December durch eine Deputation überNiSa Aot-V-ef M Warvs. (Aufenthaltsort des deutschen Kaisers Mitte August.) reicht werden sollte. Dieselbe wurde nicht einmal angenommen und der Selbstbeherrscher aller Reußen zeigte sich höchst indignirt von dieser eigenmächtigen Mnmischung. Auch 60 russische Schriftsteller und Künstler ermannten sich zu einem Protest gegen diese Verletzung der fundamentalsten Principien der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, welche als höchst gefährlich für die Zukunft Rußlands angesehen werden. Es nimmt nur Wunder, daß oiese Frechlinge nicht sofort nach Sibirien geschickt wurden. Eine charakteristische Illustration des russischen allerhöchsten Familienlebens bildete die heimliche Vermählung des Großfürsten Michael mit der reizenden Gräfin Meerenburg, einer Tochter des Prinzen Nikolaus von Nassau. Der Czar hatte die Bewilligung zu dieser Heirat versagt und nachdem dieselbe doch im Auslande erfolgte, verbot er dem Großfürsten die Rückkehr nach Rußland. Die Großfürstin Olga, Mutter des widerspenstigen Michael, endete aus Verzweiflung über diese Vorgänge durch Selbstmord. Ein solcher Scandal war im Hause Romanow bis jetzt noch nicht vorgekommen! Am 26. April schied auch ein nicht gerade würdiges Glied der kaiserlichen Familie aus dem Leben. Es war der Onkel des regierenden Czaren, Bruder des ermordeten Alexander II, Großfürst Nikolaus Nikolajewitsch. Als Obercommandant im türkischen Krieg 1877 brächte er seine Armee vor Plewna in eine derartige Bedrängniß, daß ihm der Oberbefehl sofort abgenommen werden mußte. Auch wurde er nach dem Kriege durch einen Proceß mit den betrügerischen Lieferanten sehr bloßgestellt, führte überhaupt ein sehr verschwenderisches Leben, wurde unter Curatel gestellt und von seinem Neffen, den Kaiser, in eine Art von Verbannung geschickt. Er endete in Tobsucht. Eine Niederlage auf volkswirthschaftlichem Gebiete erlitt der russische Staatscredit durch das Scheitern einer Anleihe von 600 Millionen Francs. Haus Rothschild hatte dieselbe bereits Anfangs Mai zugesagt, trat aber in Folge der unmenschlichen Judenverfolgungen wieder zurück und der russische Finanzminister erhielt in Folge dessen nirgends Geld. Am 12. Mai berichtete der Telegraph von einem Attentat, welches auf den Großfürsten Thronfolger in der heiligen Stadt Otsu von einem japanischen Polizeisoldaten ausgeübt wurde. Der Prinz erhielt einen Säbelhieb über das Gesicht, die Wunde war aber bald geheilt und die Weltreise konnte schon nach einigen Tagen fortgesetzt werden. Auch von einem Attentat auf den Kaiser, welches während seines Besuches der asiatischen und französischen Ausstellung in Moskau ausgeführt werden sollte, war die Rede und schließen wir unsere Jahreschronik nicht ohne Besorgniß, daß eines derselben doch einmal gelingen könnte. Bulgarien und die Balkan-Länder. Mit besonderem Interesse müssen wir stets die Vorkommnisse an der untern Donau verfolgen. Während unser Bundesgenosse sich scheinbar pasüv verhält und Fürst Bismarck seinerzeit erklärte: für Bulgarien nicht die Knochen eines Grenadiers opfern zu wollen, ist es unsere Aufgabe, Rußland dort nicht noch mehr festen Fuß fassen zu lassen. Die bulgarische Regierung richtete Anfangs Juli eine diplomatische Note an die Pforte, in welcher sie um Legitimirung und Gleichberechtigung mit den anderen Nationen Europas bat. Leider wird die ohnmächtige Türkei nicht die Anerkennung des Fürsten Ferdinand wagen; denn sie darf Rußland nicht zu kommen, daß die russische Freundschaft nicht viel werth sei. Ein serbischer Gelehrter Gjor- gjerie wies in einer eigenen Denkschrift sogar historisch begründet nach, daß Serbien Rußland weit größere Dienste geleistet, als es empfanden iind weist den Vorwurs der Undankbarkeit in* dignirt zurück. Rußland suchte seine Jngerenz in Bulgarien wieder dadurch bemerkbar zu machen, daß es Mitte Januar eine Note an die Regierung richtete, in welcher es die Ausweisung aller in Bulgarien weilenden Russen, die des Nihilismus verdächtig seien, begehrte. Stambulow wies zunächst nach, daß Hunderte von russischen Agenten und Spione, die im Solde Rußlands ständen und gegen die Ordnung Bulgariens conspirirten, sich im Lande aufhielten und daß er diese vorerst ausweisen würde. In Serbien fand wieder einmal Ende Februar eine Ministerkrisis statt und der Briefwechsel zwischen dem vormaligen König Milan und seinem gewesenen Minister Garaschanin enthüllte so scheußliche Details, die beiderseitige Sprache darin war eine so unwürdige, daß sich das ganze civilisirte Europa von diesen ekelhaften Kundgebungen mit Abscheu abwandte. Auch in Rumänien findet ein fortwährendes Ringen der Widerstreitenden Parteien um die Herrschaft statt. Dem Ministerium Manu folgte Mitte März das liberal-conservative Cabinet Florescu, unter dessen Aegide auch die zehnjährige Jubelfeier der Proclamirung des Königreichs und der 25jährigen Regierung des Königs begangen wurde. König Carol, der wirklich um seinen Thron nicht zu beneiden ist, hat allezeit die Wohlfahrt des Landes gefördert und sich um dessen Befreiung aus der verderblichen Bojarenwirthschaft die größten Verdienste erworben. Während in dem benachbarten Rumänien gegen Ende März noch Jubelklänge ertönten, vollzog sich am 28. März ein grauenhafter, politischer Mord in Bulgarien. Der Finanzminister Beltschow wurde Abends 7 Uhr auf offener Straße in Sofia durch Revolverschüsse gedungener Mörder getödtet, die ihr Ziel verfehlt hatten, denn eigentlich galt es dem Ministerpräsidenten Stambulow. Die feigen Mörder entkamen, aber die Verhaftung ihrer Complicen that nur zu deutlich dar, daß Rußland auch bei diesem Attentate wieder die Hand im Spiel hatte. Durch ganz Europa ertönte ein Schrei des Entsetzens und des Abscheus gegen diese Umtriebe, die natürlich von der russischen Publicistik ganz anders dargestellt werden. Charakteristisch ist es aber, daß zu gleicher Zeit Fürst Ferdinand, seine Mutter und Stanlbulow Drohbriefe erhielten, als deren Verfasser, ein ehemaliger Kawasse des russischen Generalkonsulats entdeckt wurde. Der Conflict, der zwischen dem depossedirten König Milan von Serbien und der Regentschaft bestand, wurde Mitte April endlich beigelegt. reizen und so wird diese diplomatische Demonstration nur einen akademischen Werth behalten. In Serbien gestalten sich die politischen und volkswirthschaftlichen Interessen unter dem radi- calen Regime immer ungünstiger und König Milan betonte in einer Rede bei dem Belgrader Professoren-Banket am 1. Juli, daß er lieber dem Throne entsagte, als einer politischen Richtung zu folgen, deren entschiedener Gegner er von jeher war. Die Radicalen haben in dem einen Jahr ihrer Regierung dem Lande ungeheuren Schaden zugefügt. Die serbisch-rumänische Handelsconvention nannte Milan eine Dummheit und er machte die radicale Partei für die wirth- schaftliche Bedrängniß Serbiens verantwortlich. Das befreundete österreich - ungarische Reich fordere man förmlich heraus und vernachlässige sogar die Armee. Daß dieser Tadel für die Regentschaft sehr empfindlich war, kann nicht verwundern und Ristic dürfte auch für die Aeußerungen seines frühern Königs nicht unempfänglich bleiben, da er wenigstens stets betont hat, mit Oesterreich-Ungarn auf gutem Fuß verharren zu wollen. Der serbische Consul Marincovic wurde am 3. Juli in der türkischen Stadt Uesküb auf dem Marktplatz ermordet. Die Pforte versprach die strengste Untersuchung und wurde auch der Mörder in der Person des Zigeuners Sigo bald ausfindig gemacht. Dem Mord lag nur ein persönlicher Racheact und kein politisches Motiv zu Grunde. Bei den Neuwahlen in die Sobranje errang Anfangs September die Regierungs-Partei einen glänzenden Sieg und das Vertrauen zu Stam- bulow's Regime dringt auch in die Kreise der Russenfreunde. Rumänien erlitt einen schweren Verlust durch das Ableben seines größten Dichters Vasile Alexandri, der, 1821 geboren, schon in früher Jugend sein großes Talent in der Sammlung der nationalen Gesänge und in seinen politischen Liedern offenbarte. Die hochbegabte Dichterin - Königin Elisabeth übertrug vieler seiner Dichtungen ins Deutsche und machte dieselben dadurch auch weiteren Kreisen zugängia. In Bulgarien herrscht Fürst Ferdinand, Wenn auch von den Großmächten, mit Ausnahme Rußlands, nur stillschweigend anerkannt, friedlich weiter und Bulgarien entwickelt sich immer mehr und steigt dadurch in der Achtung Europas. Nur der Clerus zeigte sich der Regierung abgeneigt und unterstützte im Geheimen die russischen Wühlereien. Der Metropolit Element von Tir Uowa wurde deshalb schon vor zwei Jahren seines Amtes enthoben. Nun ist das auch besser geworden. Die Synode hat am 11. November dem Fürsten ihre förmliche Huldigung dargebracht Und dadurch seine und die Regierung Stambu- ww's noch mehr gefestigt Auch finanziell ist das Land gekräftigt, indem das Budget einen Überschuß von einer Million Francs constatirte. In Serbien scheint man auch zur Erkenntniß |

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