Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1892

84 85 schast und Bildung des neuen Cabinets. Die Franzosen und Russen, welche im Sturz Crispi's schon den Anschluß Italiens an das deutschösterreichische Bündniß gefährdet sahen, wurden aber bitter enttäuscht, denn der neue Lenker der italienischen Politik bekannte sich ebenso, wie sein Vorgänger, zur Aufrechthaltung der Tripel- Allianz. Es gelang ihm auch bedeutende ErjparNudinr. nisse im Staatshaushalte zu erzielen und somit wäre dem so vielfach aufgeregten Lande wieder eine Ruhe und Sammlung vergönnt gewesen, wenn die furchtbare Explosion des Pulverthurmes, welche am 23. April in Rom erfolgte, nicht wieder Alles in Aufregung versetzt hätte. Es war ein furchtbares Ereigniß, das Hunderte von Todten und Verwundeten zur Folge hatte. Die Alerro Mascagni. eigentliche Ursache der Katastrophe konnte nicht ermittelt werden. Italien kann sich rühmen, im letzten Jahre den gefeiertsten Componisten der Gegenwart, Pietro Mascagni, hervorgebracht zu haben. Dessen einactige Oper „Cavalleria rusticana“ (Sici- lianische Bauernehre) hat bereits die Runde durch ganz Europa gemacht. Der anspruchslose junge Künstler ist 1863 zu Livorno geboren und war zu einem ganz anderen Berufe als zum Componisten bestimmt, aber die Liebe zur Kunst ließ ihn keine Opfer scheuen. Eine seiner ersten Conlpositionen war Schiller's Lied an die Freude. Mit der Cavalleria hat er den ausgeschriebenen ersten Preis und europäischen Ruf erworben. Arankreich. Die politische Situation der Republik hat sich seit vonaem Jahr wenig verändert Frankreich gehört den Republikanern und die orleani- sttschen, bourbonischen und bonapartistischen Agitationen haben durch den Niedergang des Boulangismus alle Macht verloren. Carnot waltet seines hohen Amtes mit Vorsicht und Weisheit, er hütete sich auch auf seiner Rundreise durch die Departements, irgend welchen Revanche- gelüsten Nahrung zu geben, vermied es auch, ein Bündniß mit Rußland anzudeuten und wurde vielleicht gegen seinen Willen durch einen hohen russischen Orden ausgezeichnet. Nichtsdestoweniger ist die Pariser Polizei scharf hinter den vermeinten Nihilisten her und glaubte wieder Anfangs Juli eine ganze derartige Bande aufgestöbert zu haben. Die Leute entpuppten sich aber als ganz harmlose Russen, denen nur der Aufenthalt in ihrer Heimat verleidet war. Der deutsche Kaiser ergreift jede Veranlassung, um dem französischen Genius seine Sympathien zu bezeugen. Die Aufnahme der französischen Delegirten bei der socialen Con- ferenz in Berlin, die Auszeichnungen, welche die französischen Gelehrten und Aerzte auf dem internationalen medicinischen Congreß erfuhren, haben auch in Frankreich die Ueberzeugung hervorgerufen, daß Europa ein Heraustreten Frankreichs aus seiner Jsolirung freudig begrüßen würde. Der zwanzigjährige Bestand der französischen Republik wäre wohl einer Feier werth gewesen, Monsieur Mermeix sorgte wenigstens durch seine Enthüllungen über den Boulangismus für die ewige Beseitigung des größten und geheimsten Feindes der Republik und für deren Befestigung. Dieser Hochverräther, genannt 16 brave Gänöral, der im Dienste der Republik stand, hatte sich unter Anderm anheischig gemacht, gegen einen Jabresgehalt von 200.0"0 Francs, die Herzogswüroe und den Marschallsstab den Grasen von Paris oder einen Napoleoniden auf den Thron Frankreichs zu setzen. Eine weitere Kräftigung erhielt die Republik durch eine Rede des in größtem Ansehen stehenden Cardinals Lavigerie, die derselbe in Algier hielt. Er legte darin ein förmliches republikanisches Glaubens- bekenntniß ab, erklärte, daß die republikanische Regierungsform durchaus nicht den christlichen Grundsätzen zuwider laufe, und daß die Kundgebung des französischen Volkes zu Gunsten der Republik das Land gerettet habe. Die Monarchie habe sich selbst getödtet. Cardinal Lavigerie ist persona grata im Vatican und dadurch erhalten seine Aussprüche eine umso größere Bedeutung. Die Ermordung des pensionirten russischen Generals Seliverstow, die am 19. November in Paris durch seinen Landsmann Pederski erfolgte, erregte großes Aufsehen. Dem Mord lagen politische Motive zu Grunde und deshalb gelang es auch dem Mörder, französische Freunde zu finden, die ihm zur Flucht verhalfen. Am 12. Jänner starb in Paris im Alter von 80 Jahren Baron Haußmann, der Schöpfer von Neu-Paris unter Napoleon 111. Groß-Wien bedarf auch eines Haußmann! Der achttägige Aufenthalt der Kaiserin Friedrich Ende Februar in Paris, welche gekommen war, eine Verbrüderung der französischen mit der deutschen Kunst bei der Berliner Ausstellung einzuleiten, hat leider constatirt, daß der boulangistische Revanche-Janhagel in Paris noch immer die Oberhand hat und daß die Regierung wohl den Willen aber nicht die Kraft hat, diesen chauvinistischen Schreiern gründlich das Handwerk zu legen. Das französische Volk verachtet diese Hetzen, hat aber nicht den Muth ihnen entgegenzutreten. Am 18. März starb fern von französischem Boden in einem Hötel zu Rom Prinz Jerome Napoleon, seiner demokratischen Gesinnung halber der „rothe Prinz" genannt. Er hat seinem Vetter, Kaiser Napoleon III., stets große Verlegenheiten bereitet, war aber bei alledem ein besserer Politiker wie dieser und wenn seinem Rath gefolgt worden wäre, so würden wahrscheinlich heute noch die Napoleoniden auf dem französischen Throne sitzen. Mit ihm ist auch der Imperialismus zu Grabe gegangen; denn sein Sohn Vicwr hatte sich zur Unzeit als Prätendent gegen ihn aufgeworfen, was ihm der Vater auch nicht auf dem Todtenbette verzieh. Die Republik vermag übrigens die socialen Verhälttiisse nicht besser zu gestalten. Die arbeitende Classe ist in fortwährender Gährung und in Fourmies revoltirten 4000 Arbeiter, gegen welche die Truppen einschreiten mußten, wobei. sieben Personen getödtet und viele verwundet wurden. Es kam darüber zu heftigen Debatten in der Kammer, wobei aber die Regierung die Oberhand behielt. Präsident Carnot hatte übrigens auf seiner Rundreise durch die Departements so viele Beweise der Sympathie für seine Person und die republikanische Regierungsform erhalten, daß der Wunsch des französischen Volkes nach Erhaltung des Friedens am Schluß unserer Chronik wohl constatirt werden kann. Kugtand. Die Politik des englischen Cabinets ist die traditionelle geblieben. Sie weiß sich in aller stille alle Vortheile zu sichern, ohne öffentliche bindende Erklärungen abzngeben. Es ist für die diplomatische Welt kein Geheimniß, daß ein ^lnjchluß an die Tripel-Allianz stattgefunden hat und die Enthüllungen, welche der „rothe Prinz vor seinem Dahinscheiden aus einem Gespräch mit König Humbert geoffenbart hat, be- stängen es, daß Italien in einem möglichen Kampf mit Frankreich und Rußland ruhig mobilisiren könne, da England seine Küsten vor einem Angriff der Franzosen schützen würde. Salisbury bestätigt dies jndirect, indem er be, Gelegenheit eines apeech betonte, daß die Erhaltung des europäischen Friedens auch die Ausgabe Englands sei. Eine nicht zu unterschätzende Stärkung hat die Regierung auch bei einer am 30. Juni abgehaltenen unionistischen Maffenkundgebung erhalten, in welcher sämmtliche anwesende Minister die Errungenschaften der Regierung in der auswärtigen Politik betonten. Durch den mit Deutschland abgeschlossenen Vertrag wurde jede Ursache einer Differenz mit jenem großen Reiche des Festlandes beseitigt, mit dem wir durch enge Bande der Bundesgenossenschaft verknüpft sind. Diese Anschauungen gelangten auch in der Thronrede, mit welcher die Königin am 18. August die Session des Parlaments schloß, zum Ausdruck. Die Differenzen, in welche England mit Amerika und Frankreich wegen der Fischerei- rechte in der Beringssee und Neufundland gerathen, sollen durch Schiedsgerichte ausgetragen werden. Diese Maxime sollte auch bei den großen europäischen Streitfragen zur Geltung kommen. Der deutsch-englische Afrika-Vertrag sicherte Großbritannien das Protectorat über Sansibar und wurde dies Uebereinkommen Anfangs November dort publicirt. Während aber Englands Colonialmacht in fortwährendem Wachsen begriffen ist, zeigen sich innere volkswirthschaftliche Schwächen. Englische Bankhäuser hatten den südamerikanischen Staaten ungeheure Summen zum Bau von Eisenbahnen Häfen, Industrie - Unternehmungen, Landes- Cultivirungen rc. vorgeschossen. Man schätzte das europäische Geld, das dorthin geflossen, auf 1'00 Millionen Gulden. Am stärksten war das älteste und berühmteste Bankhaus Londons der Br. Barmg engagirt und nur durch die englische Bank, Rothschild u. A. konnte eine Katastrophe, die zu einer Landesealamität geworden sein würde, verhindert werden. Die Bank von Frankreich half mit 73 Millionen Gold aus und so wurde größeres Unheil befchworen. Einen weiteren schweren Verlust erlitt England m Indien durch die Empörung des Raiah von Manipur, der gegen Ende März eine gegen »hu gesandte Truppenabtheilung überfiel und medermetzelte. Die Vergeltung blieb zwar aus, der Rajah wurde gefangen genommen ^de verurtheilt, aber die ' Dahinae- ^^7» können nicht m-br lebendig gemacht SÄ ^rigens war der Ausstand eigentlich aus Thronstreit,gketten zwischen den Brüdern ent-

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