82 83 herrschte überhaupt die Kammern. Auch der Rücktritt Goßler's war sein-Werk. In ihm starb eine der populärsten parlamentarischen Persönlichkeiten. Bon noch größerer Bedeutung und Ursache einer förmlichen Landestrauer war der am 24. April plötzlich erfolgte Tod des Grafen von Moltke, des größten aller Strategen unserer Zeit, der durch die Organisation und. Führung der deutschen Heere jene beispiellosen Erfolge erAM. Graf v. Mottüe. | zielte, die zur Einigung und Größe des Deutschen Reiches führten. Die Vorsehung hatte in ihm einen Ausnahmsmenschen geschaffen und ihn zur Ausführung großer Werke bestimmt. Am 26. Oc- tober 1800 zu Parchim als Sohn des dänischen Generallieutenants v. Moltke geboren, trat er in die dänische Cadettenakademie, wo er eine freudlose Jugend verlebte, sodann 1822 in die preußische Armee als Unterlieutenant ein. Sein Genie blieb nicht unbemerkt und fünf Jabre später wurde er als Lehrer und dann in das topographische Bureau berufen. 1832 wurde er als Hauptmann zum großen Generalstab comman- dirt und trat 1835 eine Reise nach Griechenland und dem Orient an, wo er als Jnstructor die türkische Armee reorganisiren sollte. Leider befolgte man seine Rathschläge nicht und trotz aller Warnungen unternahin der türkische Heerführer mit einer ganz undiseiplinirten Armee in der Schlacht bei Nisib den Angriff auf die egypti- schen Truppen unter Ibrahim Pascha. Der Erfolg war eine totale Mederlage und 1839 kehrte Moltke wieder in die Heimat zurück, wo er wieder in den Generalstab eintrat und sein bewährtes Werk: „Zustände und Begebenheiten aus der Türkei 1835—1839" und mehrere Kartenwerke über Constantinopel und Kleinasien verausgab- 1842 wurde er Major und 1845 Adjutant des Prinzen Heinrich, der seine große Begabung z" würdigen wußte, leider aber schon 1846 in Rom starb. 1848 wirkte Moltke als Chef des Generalstabes in Magdeburg, wo er bis 1855 als Oberst verblieb. Der Kronprinz Friedrich Wilhelm (nachmaliger Kaiser Friedrich) erbat ihn sich zum General-Adjutanten und mit diesem geistreichen Prinzen bereiste dann Moltke 1856 Rußland und begleitete ihn 1861 nach Paris. Als Generalmajor wurde dann Moltke mit der oberen Leitung des peußischen Ge- neralstabes betraut und in dieser Stellung bewährte sich sein großes Organisationstalent durch die Erfolge im SchleSwig- Holstein'schen Krieg, im Feldzug l^6b gegen uns und 1870 im deutsch-französischen Kriege. Der große Schlachtenlenker hatte in der Regel schon vor Eröffnung des Kampfes bereits die Schlacht wonnen. Kaiser Wilhelm nannte ihn das Schwert des Deutschen Reiches, erhob ihn in den Grafenstand, verlieh ihm die höchsten Orden und den Rang eines Feldmarschalls. Auch das Vaterland bezeugte dem Helden seine Anerkennung durch Errichtung von Denkmalen, Verleihung von Ehrendiplomen und er konnte sich wohl mit Bismarck rühmen, der gefeiertste Mann seines Jahrhunderts zu sein. Sein Tyd war ein rascher und sanfter; die Vorsehung hatte ihn auch in dieser Beziehung unter ihren besonderen Schutz genommen. Am 1. Mai wurde auch das Wahlresultat aus Geestemünde bekannt, nach welchem Fürst Bismarck nach schwerem Karnpfe mit einem Demokraten obsiegte. Der große Staatsmann und Schöpfer des Deutschen Reiches tritt also als einfacher Abgeordneter in das deutsche Parlament, das er während seiner Amtsthätigkeit sehr oft gering geschätzt hat. Es ist immerhin diese Umkehr ein bedeutsames Zeichen für die Macht des Parlamentarismus und Europa erwartet mit Spannung, wie der gewaltige Recke sich mit dieser Macht verständigen wird. Deutschland hatte am t. Mai wieder den Verlust eines seiner größten Gelehrten, des Forschers der italienischen Geschichte, Gregorovius, zu beklagen, der in München starb. Er lebte beinahe ausschließlich in Rom, wo er seine berühmten Werke: „Die Geschichte der Stadt Rom im Mtttelalter", über Corsica, Capri, Lucretia Borgia u. A schrieb. Kaiser Wilhelm wurden auf seiner Fahrt nach Bonn in den Rheinlanden am 4. Mai aller Orten sympathische Ovationen bereitet. In Bonn selbst, wo er seine Studienzeit vollbracht, bräsidirte er dem Commers und fand begeisterten Empfang. Trotz dieser unausgesetzten Thätigkeit ist der Geist der Unzufriedenheit, den der Kaiser selbst als durch alle Classen der Gesellschaft gehend bezeichnet, nicht abzustreiten. Diese Unzufriedenheit basirt zunächst auf einer unerhörten Verteuerung de> Lebensmittel im ganzen Deutschen Reiche. Schon Fürst Bismarck führte eine Wirthschaftspolitik ein, welche zu Gunsten einiger Grundbesitzer Korn und Vieh mit hohen Eingangszöllen belastete und dadurch die Masse des Volkes schädigte. Dasselbe ist also unzufrieden und die Agrarier sind wieder unzufrieden, weil sie sich ihren seitherigen Prärogativen, die nicht länger haltbar erscheinen, bedroht sehen. Im deutschen Reichstag kam es deshalb zu lebhaften Debatten Und die Ermäßigung der Korn- und Viehzölle, auch Oesterreich-Ungarn schwer schädigen, wurde vom Kanzler Caprivi im Reichstag wohl als einziges Mittel der Berwohlfeilung des Getreides zugegeben,allein es wiege den Schaden, der dadurch der Laudwirthschaft zugefügt werde, nicht auf. Der blecherne Kanzler hat sich dadurch wohl zu den Principien des eisernen bekannt, sich aber auch um seine Popularität im deutschen Volke gebracht. Am 22. Juni schied nun auch der letzte Bismarck'sche Minister Hr. v. Maybach aus dem Cabinet und die neue Regierung hat in den zwei Jahren ihres Bestandes einer? ziemlich starken Verbrauch von ministeriellen Kräften aufzuweisen. Nun ist die Bahn zur Einhaltung des alten Courses ganz frei. Welche Nutzeffecte sie liefern wird, soll uns die nächste Jahreschronik lehren. Das freudigste Ereigniß am Schlüsse unserer Jahreschronik, das auch Kaiser Wilhelm II. als ein solches bezeichnete, war die Verlängerung des Dreibundes auf sechs Jahre. Die Opfer, welche die Völker der drei Staaten dem Frieden zu bringen haben, sind zwar große, stehen aber doch in keinem Verhältniß zu einem einzigen Feldzug. Itatieu. Die Regierung sah sich veranlaßt, endlich die irrcdentistischen Vereine Obcrdank und Barsanti im August aufzulösen. Es war das wüste Treiben dieser Herren nicht mehr länger mit den freundschaftlichen Beziehungen zu Oester- reich-Ungarn iu Einklang zu bringen. Auch nach Dalmatien und Trieft hinüber hatten sie agitirt und am 29. August war eine Petarde vor' das Vereinslocal des slavischen Unterstützungsvereines gelegt worden, deren Explosion einem Knaben beinahe das Leben gekostet hatte. Diesen irredentistischen Umtrieben fiel auch der Finanzminister Seismit Doda zum Opfer, da er bei einem Bankett in Udine sich tactlos benommen hatte. Dagegen fand die Rede Crispi's, die er am 9. October in Florenz hielt, Wiederhall in ganz Europa. Er betonte in derselben die fortdauernden guten Beziehungen zu Oesterreich-Ungarn und machte entschieden Front gegen die Radicalen lind Jrredeutisten. In gleicher Weise sprach er sich in Turin aus und bei den gegen Ende November stattgefundenen Wahlen errang auch die Regierungspartei einen vollständigen Sieg über die Radicalen und die überwiegende Majo- rrtat. Daß sich trotzdem Crispi züm Rücktritt Uraniaßt sah, daran war er eigentlich selbst Schuld. In der Sitzung vom 31. Jänner gerieth er mit selner eigenen Partei wegen Einführung des Sperrzolles auf Alkohol in Conflict, er beleidigte seine eigene Majorität und reichte noch am selben Tag dem König seine Demission 1 w^ unstreitig ein Staatsmann von hoher Begabung und sein Rücktritt wurde auch rn Oesterreich-Ungarn allgemein beklagt. k ™ Februar übertrug König Humbert dem Marchese Rudini die Ministerpräsident6*
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