Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1892

62 63 Das glückliche Paar war aufgestanden und Victor ging dem unerwarteten Besuche einige Schritte entgegen. „Erlaube mich vorzustellen! Ernst Hornung, Agent einer der ersten Versicherungsgesellschaften!" begann der Fremde, die dargebotene Hand Victors ergreifend. „Frent mich sehr, Herr Hornung, eine wirkende Kraft Ihres humanen Vereines kennen zu lernen. Ich habe schon sehr Vieles über das außerordentliche Wirken desselben gehört. Hier, meine Gattin!" „Sehr verbunden!" entgegnete der Agent, sich leicht gegen Marie verbeugend. „Bitte, Platz zu nehmen!" begann Victor. „Was verschafft mir das Vergnügen?" „Der Zweck meines Erscheinens ist — kurz gesagt — Herrn Baron zum Abschluß einer Lebensversicherung bei unserem Vereine zu animiren." Nun erklärte der Agent in Kurzem das Wesen des Vereines, beleuchtete die Vortheile, welche derselbe bietet, und erinnerte Victor an den Tod, der nur zu oft ins volle Menschenleben eingreift und unerbittlich Herzen auseinanderreißt. Nachdem Hornung geendet hatte, erhob er sich anstandsvoll vom Stuhle. „Ich will Herrn Baron nicht länger belästigen! Gerade eine derartige Angelegenheit will überlegt sein. Wenn Herr Baron in dieser Richtung Schritte zu thun gedenken, stehe ich jederzeit zur Verfügung. Hier meine Adresse!" „Danke bestens für die Freundlichkeit, Herr Hornung! Ich will die Sache mit meiner Frau näher besprechen!" Nach gewechseltem Händedruck entfernte sich der Agent. „Beste Marie! Ich habe einen großen Fehler begangen, daß ich nicht schon längst eine Lebensversicherung nahm. Ich bin aber factisch bis jetzt noch nie auf den Grdanken gekommen, daß auch ich ein Sterblicher bin, dazu wärest Du im Falle meines Todes ganz ohne Mittel, sogar ohne Pension! Wie ich nur das übersehen konnte!" „Ach! Denke auch jetzt nicht daran. Denke nicht an den Tod! Wir sind ja glücklich; freuen wir uns unseres Daseins !" Victor schloß seine theuere Gattin liebevoll in die Arme. Sie drückte ihr liebliches Antlitz an seine Brust, um die Thräne» zu verbergen, die bei dem Gedanken an seinen Tod aus ihren dunklen Augen perlten. Von nun an hatte Victor keine Ruhe mehr. Der Gedanke an einen plötzlichen Tod, an seine dann unversorgte Gattin hatte sich ihm aufgedrängt, er verfolgte ihn Tag und Nacht. Schnell entschlossen besuchte er eines Tages persönlich den Agenten, zahlte die erste Rate und bekam acht Tage darauf die Polizze. Der Agent hatte seine Angelegenheit geordnet. Mit Marie wollte er dieses Thema nicht mehr besprechen ; er schwieg darüber. Die Polizze steckte er in ein Couvert, schrieb auf ein Briefpapier einige Worte, steckte dieses dazu und verwahrte das für ihn wichtige Papier in seinem Schreibtische. Seine frühere Ruhe und Zufriedenheit war damit wieder hergestellt. Es war dies sein erstes Geheimniß, das Einzige, das er vor Marie hatte. II. Wieder waren zwei Jahre verflossen, zwei Jahre ungetrübter Freude und stillen Glückes. Da plötzlich stand Marie als Witwe vor der Bahre ihres Gatten. Ein Herzschlag hatte seinem Leben ein Ende gemacht. Der Schmerz, den Marie fühlte, war zu groß, als daß sie Thränen hätte vergießen können. Stumme Verzweiflung sprach aus ihren Blicken, sie fühlte das Ende ihres Glückes, eine unmeßbare Leere fühlte sie in ihrer Seele. In den ersten Aufwallungen dieses Schmerzes hätte sie gerne ihrem Leben ein Ende gemacht. Da fielen ihre Blicke auf ihr Kind, ein liebliches Knäblein, das den Namen des Vaters trug. „Für Dich will ich leben, für Dich arbeiten, auf Dich Überträge ich all die Sorgfalt, die ich früher ihm, Deinen verstorbenen Vater widmete!" dachte Marie, hob den Kleinen, der das Ebenbild seines Vaters war, zu sich empor, drückte ihn stürmisch an ihre Biust und küßte ihn. Die irdische Hülle Victors _ ward unter Begleitung seiner Vorgesetzten, seiner Collegen und Freunde, die ihm Alle sehr gut gewesen waren, zu Grabe getragen. Marie waltete nun allein in der traulichen Wohnung, wo sie Alles an ihren geliebten Gatten erinnerte. Wie kamen ihr nun die kleinen Ersparnisse zu Gute, die sie mit ihrem Gatten während der wenigen Jahre gemacht hatte. Für die Zukunft dachte sie an dieses und jenes. Sie wollte arbeiten und streben für sich und ihr Kind. Eines Tages öffnete Marie den Schreibtisch Victor's und ordnete dessen verschiedene Papiere und Doeumente Da entglitt ihren Lippen plötzlich ein Laut der Freude. Sie hatte ein Couvert gefunden; jenes Couvert, in dem Victor die monatlichen Prämienscheine für die Lebensversicherung des Beamtenvereines aufbewahrt hatte. Auf einem beigelegten Briefpapiere standen die Worte: „Liebesgabe für »icine thenre Gattin im Falle meines Todes! Baron Victor von R............. Bahnbeamler." Lange saß Marie träumend vor dem Secretär, ihre Blicke liebreich auf eine Photographie ihres verstorbenen Gatten gerichtet. Alle Freuden, alles entschwundene Glück zogen in sanften Bildern an ihrer Seele vorüber —--------- „Mama! wann kommt Papa wieder?" unterbrach der kleine Victor ihr Sinnen. „Nie mehr, Victor! Er ist zum Himmelvater gegangen!" „Dort muß es schön sein, Mama! Ich möchte auch in den Himmel gehen!" „Victor, Du bleibst doch bei mir, oder willst Du mich allein, lassen?" „Nein Mama! ich bleibe bei Dir!" Marie hatte ihr kleines Söhnchen und blickte in dessen klare, blaue Augen; sie war noch so glücklich, wenigstens ein Herz auf dieser Erde zu besitzen.--------- Auf ein Schreiben Marie's war der Agent des Vereines, Herr Ernst Hornung, in ihrer Wohnung erschienen und behob im Verlauf einiger Tage als ihr Bevollmächtigter bei diesem Vereine das versicherte Capital von 4000 Gulden. Die momentan sehr kritische Lage, in der sich Marie befunden hatte, war durch die liebreiche Vorsorge ihres ver- storbenen Gatten beseitigt. Sie konnte mit diesem Capital ein kleines Weiß- waarcngeschäft beginnen, konnte sich aber trotzdem auch der Erziehung ihres Sohnes widmen. So ward durch die Sparsamkeit und weise Vorsicht des Familienhauptcs der Mangel und die bange Nahrungssorge von seinen Hinterbliebenen abgewendet. Das versicherte Capital wurde zum Retter für Mutter und Sohn. Zu ihrer größten Freude entwickelte Victor herrliche Talente, wuchs und gedieh. Heute ist er bereits 28 Jahre alt und selbst ein nützliches Glied der Gesellschaft, ein höherer Staatsbeamter. Seine Mutter wohnt bei ihm und verbringt ihre alten Tage in stiller Zurück- gezogenheit.---------: —

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