38 39 Kaum hatte er aber mit der Blume den Hui geschmückt, als unter einem fürchterlichen Getöse sich der Berg auf- that. Der Hirt sah alsbald eine weit geöffnete Thür im Felsen, vor der ein kaum spannhohcs Männlein stand, das ihm zu folgen winkte. Obwohl er durch diese unerwarteten Vorgänge für den Augenblick aus der Fassung gekommen war, nahm er doch allen Muth zusammen und schritt seinem Führer nach. Der Weg ging zuerst durch dunkle, dann durch wunderbar beleuchtete Gewölbe, deren Wände diamantartig glitzerten, bi» Beide endlich in einen überaus prachtvollen Saal gelangten, der mit den kostbarsten Schätzen aller Art angeliillt war, und in dessen Mitte sich eine weißgekleidete Jungfrau befand. Diese betrachtete den erstaunten Hirtenjungen mit freundlichen Blicken und hub dann lächelnd an: „Hier halt Du die feinsten und auserlesensten Speisen, genieße von ihnen! Wohin Du blickst, sind ganze Haufen von Gold, Perlen, Edelsteinen und köstlichen Ge- waiiden aufgeichichtet. Nimm Dir davon, soviel Dein Herz begehrt; doch vergiß das Beste nicht!" Der Junge, durch die vernommenen Worte ermuthigt, griff nach den besten Speisen und aß und trank, steckte sich hernach Hut und Taschen voll Gold und Edelstein und schickte sich zum Rückwege an. «Vergiß doch das Beste nicht!" rief lauter und ängstlicher zum zweiteumale die Jungfrau mit stehenden Geb erden. Der Hirtenjunge spähte umher und erblickte zu seiner Verwunderung eine Peitsche, welche vortrefflich zu seinem Geschäfte zu passen schien. Da dachte er: Du hast dir schon von allen Schätzen im Ueber» fluß genommen; diese Peitsche da wird jedenfalls das Beste für dich sein! Mithin griff er ohne Bedenken nach der Peitsche Da fing aber die Jungfrau bitter- lich zu weinen und zu weh» klagen an; ein plötzlicher Donnerschlag erschütterte den Saar so, daß der Boden unter den Füßen des Hirten wankte, der im Nu wieder auf der Ober- stäche des Berges stand. Jetzt erst erinnerte er sich an sein- Wunderblume. Mit Hast griff er an den Hut, um sie her- abzunehmen, bemerkte aber zu seinem größten Leidwesen, daß er sie unter den Schätzen im Felsensaale zurückgelassen habe Mit den Worten: „Vergiß doch das Beste nicht!" hatte die Jungfrau die gelbe Blume, den Schlüssel zum verzauberten Schlosse, gemeint. Hätte dieselbe der Junge nicht vergessen, so würde er nicht nur die Jungfrau von ihren» Zauber befreit, sondern auch den ganzen Schatz gehoben haben. Seit dieser Zeit hat Niemand die Zauberblume, die alle tausend Jahre einmal zum Vorschein kommen soll, auf dem Spitzberge gefunden, in dessen Innerem auch der Schatz noch heute verborgen liegt. Der Hirtenjunge aber, der ein- reicher Mann wurde, wäre zweifellos noch reicher und glücklicher geworden, wenn er auf das Beste nicht vergessen hätte. lV. Aie neue Gruöe Bei preßnitz. --------berufen ist der Mensch zu streben! Doch wird er schwerlich je im Erdenleben Den letzten Schleier vom Geheiumib heben! Ludwig Bowitsch. Unweit der Bergstadt Preßnitz, weit Und breit durch ihre fahrenden Musikgesellschaften bekannt, steht an der Straße, welche von Dörnsdorf dahinführt, eine Marienstatue. Dieselbe stellt die Mutter- gottes mit dem Jesukindlein dar, welches die Erdkugel und das Scepter in seinen Händchen hält. Neben dem Gnadenbilde stand vor vielen, vielen Jahren eine un- ansehnliche, kleine Berghütte mit einer ergiebigen Grube. Im Volksmunde lebt noch die Sage fort, die sich an die Statue und die Berghütte knüpft. Wir wollen sie erzählen: Zur Zeit einer großen Theuerung, die einst im wunderschönen Böhmerlaude herrschte, lebte in einer windschiefen, halbverfallenen Hütte des Erzgebirges eine arme, brave Bergmaunsfamilie. Schlecht und recht, wie es eben bei einem Bergmanne möglich ist, hatte der arbeitsame Vater in besseren Tagen sein Weib und seine vier Kinder im Schweiße seines Angesichtes ernährt. Heute aber saß er gar tiefbekümmert, das Haupt gebeugt, die schwieligen Hände gefaltet in den Schoß gesenkt, im Kämnierlein, denn weder ein Bissen Brot noch ein rother Pfennig war in der Hütte. Als er sein Weib vor Noth, heiße Thränen weinen sah, und seine sterbenskranken Kinder vor Hunger schrien, da wollte dein guten, zärtlichen Vater vor Gram und Kummer schier das Herz zerspringen. Nicht länger litt es ihn unter seinem Dache. Viel Schönes hatte er ja von der Mildthätigkeit der Menschen erzählen hören, warum sollte er dieselbe nicht auch iu seiner hartbedräugten Lage in Ansprucb nehmen. Und er ergriff, den Seinigen Trost zusprechend, den Wanderstab, um iu den benachbarten Dörfern wohlthätige Mitmenschen um Gaben für seine hungernde Familie anzuflehen. Wo er an- klopfte, ward ihm zwar aufgethan, allein allüberall traten ihm bleiche, darbende Gestalten entgegen, die selbst bittere Noth litten und darüber klagten; denn schwerer als jeder andere Landestheil war diesmal das blutarme Erzgebirge von der aus- gebrochenen Theuerung heimgesucht. Es darf also nicht Wunder nehmen, wenn der um Hilfe Flehende allerorts eine abschlägige Antwort erhielt. So kam ganz hoffnungslos unser Bergmann vor Preßnitz an. Der schreckliche Gedanke, daß seine Familie nun dem Hungertode zum Opfer fallen müsse, brächte ihn zur Verzweiflung. Ermattet brach der Lebensmüde auf dem Wege zusammen und wollte, da er gerade einen Strick bei sich hatte, Hand an sich legen, um so allein Elende mit einem Male zu entgehen. Doch von neuem erwachte iu ihm sein echt christlicher Sinn und verscheuchte das wahnsinnige Gehirngespinst: er nahm seine Zuflucht:
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