Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1890

88 89 20. December erfolgten feindseligen Kundgebungen gegen das österreichisch-ungarische Konsulat, welches mit Steinen beworfen wurde. Die Regierung ertheilte allerdings durch Aufstellung von Sicherheitswachen sofortige Satis- faction, allein die eigentliche Stimmung kam dadurch doch zum wahren Ausdruck. Das liberale Ministerium Christie reicht am 8. Jänner seine Demission ein, und da nun die Radicalen unter Ristie ans Ruder gelangen, so sind andauernde Conflicte mit dem König unvermeidlich. Bereits gegen Ende Jänner dringen Gerüchte nach Wien; derselbe sei regierungsmüde und wolle abdanken, es kam aber noch anfangs März ein Compromiß mit Ristie und den Radicalen zu Stande. Es mußte deshalb befremden, daß am 6: März König Milan das diplomatische Corps zu sich berief, um demselben seinen unwiderruflichen Entschluß bekanntzugeben, daß er dem Throne zu Gunsten seines <S,nnaI pt0fit(d;f Mil, L-srral StNmarkowilsch, Mliirznit Die scrbijche ^«gtnlkchast. Ioan rliüüsch. Nrzevt. Sohnes Alexander entsage. Gleichzeitig wurden Ristie, Protiä und Belimartovio zu Regenten ernannt. Dieses Ereigniß erregte in ganz Europa große Sensation, und die politischen Consequenzen lassen sich heute noch gar nicht absehen. Der Exkönig stellte sich übrigens, nachdem er seinem Sohn feierlich gehuldigt, am 18. März unserem Kaiser in Budapest vor und fuhr dann wieder nach Belgrad zurück. Mittlerweile erhoben die russischen Agenten ihre Häupter, uud Alle, die einer Annäherung an Oesterreich-Ungarn gehuldigt, wurden verfolgt. Am 26. Mai hielt die Fortschrittspartei unter' dem vormaligen Ministerpräsidenten Garaschanin eine Parteiversammlung in einem öffentlichen Garten ab. Der Mob, durch Wein und Branntwein begeistert, bewarf die ruhig Tagenden in lebensgefährlicher Weise mit^ Steinwürsen, drang dann in das Local, so daß Gäraschanin und seine Anhänger, um ihr Leben zu retten, von ihren Revolvern Gebrauch machen mußten. Bei diesen Excessen soll ein Student erschossen woroen sein und Garaschanin wurde in die Festung gesetzt, um nicht der Volkswuth zum Opfer zu fallen. Ristia und seine beiden Mitregenten riefen nun den vom König Milan verwiesenen Ex-> Metropoliten Michael, den fanatischen Anhänger Rußlands zurück und mit ihm wird seiner Zeit auch die Königin Natalte wieder ihren Einzug halten. König Milan's Politik hat es verstanden, die politischen Leidenschaften im Zaume zu halten und jetzt, wo sich dieselben gegenseitig zerfleischen, wird man ihn als Erretter des Vaterlandes sehr bald zurückwünschen. Einstweilen hat der rollende Rubel seine Schuldigkeit gethan und es wird Ende Ium im Geheimen eine Militärconvention mit Rußland abgeschlossen. Die russenfreundlichen Blätter in Belgrad sprechen sich ganz ungenirt aus, daß Bosnien und die Herzegowina abgetreten werden müßten, und daß "die erbliche Vereinigung des Serben thums durch die Kanonen erreicht werden würde. Allerdings dementirt das Cabinet Ristie diese freche Sprache, allein warum gestattet matt der Presse, die doch in Serbien hinlänglich geknebelt ist, eine solche? Die Koßowo-Feier, die bekanntlich am 27. Juni in Kruschevatz zum Gedächtniß der furchtbaren Niederlage stattfand, die der serbische < Czar Lazar vor 600 Jahren auf dem Amjelfeld durch die Türken erlitt. welche dann auch zur Vernichtung der SelbständigkeitSerbiens schritten, steht wohl einzig in ihrer Art da. Ein Volk feiert seine erlittene Niederlage! während es für seine Befreiung oom türkischen Joch, das es den österreichischen Helden und Oesterreichs Staatskunst verdankt, kein Gedächtniß hat. Aie vattischen Staaten» Dänemark und Schweden beobachten, so wie England, in allen contineutalen Angelegenheiten fortgesetzt eine strenge Neutralität. Die Abneigung, die begreiflicherweise in Dänemark wegen Schleswig-Holstein, und in Schweden durch das in den Adern des Königspaars rollende französische Blut herrscht, scheint durch den Besuch des deutschen Kaisers etwas gemildert worden zu sein. An beiden Höfen war die Auf-' nähme des deutschen Kaisers eine ungemein herzliche, und der König Oskar von Schweden kam sogar nach Berlin, um den jüngsten Sprossen des Kaiserpaares aus der Taufe zu heben. Das dänische Parlament (Folkething) steht feinem König noch immer feindlich gegenüber, während zwischen dem norwegischen und schwedischen eine Vereinbarung stattgefunden hat. Indes sieht sich doch auch die schwedische ReKönig Christian I. von Dänemark. Gerung veranlaßt, zu einer Reform des Heer- wesens zu schreiten und 21 Millionen Kronen "^sür im Budget auszuwerfen. Die Kronprinzessin wurde am 20. April oon einem Prinzen entbunden. Mußtand. . Die Jubelfeier des 900jührigen Bestandes N russischen Reiches wurde in der alten Stadt in großartiger Weise begangen. Aus aller Zurren Länder strömen die Anhänger des Pan- Uapismus herbei, um ihre Devotion zu bezeigen, selbst Bischof Stroßmayer sandte an die Jubi- anten ein Glückwunschtelegramm, dasseines Mlos-unpatriotischen Inhaltes wegen viel An- erregte und dem Absender eine Rüge durch Unseren Kaiser zuzog. Auch General Jgnatieff suchte sich wieder bemerklich, indem er alle Slaven aufforderte, sich unter das Scepter Ruß- Luds zu scharen, um ihm zur Erfüllung seiner ^eltmission zu verhelfen. ... Die Kaiserin begibt sich am 26. August dem Thronfolger zum Besuch ihrer Schwester Luch Gmunden. Politische Motive lagen diesem ^umüliencongreß nicht zu Grunde. . Gegen Mitte September werden Unruhen Kaukasus gemeldet, auch an der afghanischen Aenze regt sich der aus Persien entflohene Mk Khan, und in mehreren Districten brechen ^uuernausstände aus. + Ministerpräsident Giers begeht am 21-.Oc- das 60jährige Jubiläum seiner drplo- ^utischen Laufbahn. Seiner Politik ist die Erhaltung des europäischen Friedens bis jetzt mit zu verdanken gewesen. Ungeheures Aussehen erregte der am 29. October auf der Rückreise der kaiserlichen Familie auf der Station Borki statt- gesundene Eisenbahnunfall. Die zweite Locomo- tive entgleiste und schleuderte die vier Waggons über den Eisenbahndamm hinab. Der Salonwagen, worin sich die beiden Majestäten befanden, wurde gänzlich zertrümmert, und es mußte geradezu ein Wunder genannt werden, daß bis auf einige kleine Contusionen die ganze kaiserliche Familie unverletzt blieb. Leider wurden mehrere Hojbeamte getödtet und 18 Personen verwundet. Ein absichtliches Attentat konnte nicht nachgewiesen werden, wohl aber mußte sich der Kaiser selbst einen Theil der Schuld bei- messen, da er bei dem schlechten Zustand der russischen Bahnen im Allgemeinen die größtmöglichste Fahrgeschwindigkeit befahl. Auf die Kaiserin hat diese Katastrophe einen nachhaltigen tiefen Eindruck gemacht. Das Kaiserpaar wurde, in Moskau und Petersburg vom Volke mit Jubel begrüßt, da es den Finger Gottes in dieser schier wunderbaren Rettung erblickt. In dem Manifest nach dem feierlichen Einzug sagte der Kaiser: „Die Vorsehung, welche Unser dem Wohle des geliebten Vaterlandes geweihtes Leben geschützt, möge Uns auch die Kraft verleihen, die großen Pflichten, zu welchen Wir durch ihren Willen berufen sind, treu bis ans Ende zu erfüllen." Einstweilen wurden die Beamten der Bahnstrecke suspendirt und der Communications- minister abgesetzt. Außer den Gerüchten über fortgesetzte Rüstungen und Truppenverschiebungen nach den Grenzen, hört man nur von den Vergewaltigungen der Deutschen in den Ostseeprovinzen, welche dieselben von der gegenwärtigen Regierung erfahren müssen. Einige Abwechslung bringt der Besuch des Schah von Persien, der am 23. Mai in Petersburg eintrifft. Der Empfang war zwar ein pompöser, allein die persische Majestät war doch nicht sehr erbaut, als ihr der Czar vor- demonstrirte, daß an den Grenzen 100.000 Bajonette in Bereitschaft seien, um den Wünschen des heiligen Rußlands Nachdruck zu verleihen. Der Schah sah sich infolge dieser Winke mit dem Zannpfahl bemüßigt, seine Visite abzukürzen und verließ am 28. Mai die Residenz des unheimlichen Bundesgenossen. Eine Tochter des Fürsten von Montenegro verlobte sich mit dem Großfürsten Paul und der Czar erklärte bei einem Festmahl, den Beherrscher der schwarzen Berge für den einzigen wahren Freund Rußlands. Es ist damit eigentlich nur die Schwäche des Kolosses auf thöner- nen Füßen constatirt, der sich in ganz Europa ohne andere Freunde als diesen kleinen Fürsten

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