Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1890

84 jährlicher Rente. Einstweilen fährt die republikanische Regierung fort, das Kriegsbudget aufs maßloseste auszudehnen und legt dadurch keinen Beweis von Friedensliebe ab. Wie weit übrigens die Corruption unter den Mitgliedern der Deputirteukammer eingerissen sein muß, geht ans dem Proceß Gilly hervor, in welchem 20 Mitglieder der Budgetcommission unlauterer Handlungen beschuldigt wurden. Der Gerichtshof von Nimes sprach aber am 17. November den wegen Verleumdung Angeklagten frei, und die Kläger wagten es nicht, den Proceß wieder aufzunehmen. Die Großfürsten Wladimir und Alexis werden bei ihrem Besuch in Paris am 17. November mit russenfreundlichen Demonstrationen begrüßt und vom Präsidenten Carnot mit Auszeichnung ausgenommen. Die russischen Regierungsblätter versichern aber gleichzeitig, beide Länder hätten nur ihre Entwicklung zu fördern und den Frieden zu erhalten. Um das Gedächtniß an die Thaten republikanischer Helden einigermaßen, aufzufrischen, stellt Bouodout in der DeprUirtenkammer den Antrag, die Ueberreste Baudin's, der bei dem Staatsstreich Napoleon III. auf den Barricaden fiel, ins Pantheon zu überführen.- Dieser Antrag wurde in Anwesenheit Boulangers mit großer Majorität angenommen. Derselbe gibt am 23. November wieder ein Bankett, bei welcher Gelegenheit er dagegen protestirte, daß er aggressive Hintergedanken habe. Jedes Volk, welches leben will, muß stark sein; bei dem dermaligen Zustande Europas, angesichts der von allen Nationen getroffenen Vorkehrungen wären wir nicht in Sicherheit, wenn wir minder gerüstet wären als unsere Nachbarn. Frankreich lst eifersüchtig auf seine Rechte, aber es sehnt sich nach dem Frieden und nach Arbeit. Ich für meinen Theil, der ich mehr Patriot als Soldat bin, wünsche innig die Erhaltung des Friedens. Napoleon III. hat auch ähnliche Worte gesprochen: L’empire c’est la paix; dann hat er aber doch Kriege mit aller Welt geführt. Wilson hatte die Frechheit, am 26. in der Deputirteukammer seinen Sitz einzunehmen. Es wurde darauf der Antrag zur Suspendirung der Sitzung auf eine Stunde angenommen, worauf sich der Schwiegersohn des Expräsidenten entfernte. Am 2. December findet die Baudin-Feier in Paris ohne störende Zwischenfälle statt. Obwohl dieselbe gegen den Cäsarismus gerichtet war, verfehlte Boulanger als stiller Anhänger desselben nicht, seine gute republikanische Gesinnung zu betheuern. Am 10. stirbt in Paris die hundertfache Millionärin Herzogin von Galliern. Sie vermacht ihr großartig eingerichtetes Palais der österreichisch-ungarischen Botschaft. Am 14. December kommt die Angelegenheit 85 des Panamacanals in die Deputirteukammer. Das Lesseps'sche Unternehmen hat bereits über zwei Milliarden verschlungen, und da die Actionäre keine Zinsen mehr erhielten, so sind die Bauten ins Stocken gerathen und eine Krisis ist unvermeidlich. Der Canal ist erst zu einem Drittheil vollendet, und noch 1/, Milliarden sind erforderlich, um die Verbindung zwischen den zwei Meeren herzustellen. Das Ministerium setzt eine eigene Pauamacanalcommission zur Berathung der Sache ein; diese aber lehnt das Project und die Bildung einer neuen Gesellschaft ab. Auch die Deputirteukammer beschließt in gleichem Sinne. Die Aufregung ist eine ungeheure, denn der größte Theil dieses Riesencapitals ist in Frankreich placirt und tausende kleiner Capita- listen sind in ihrer Existenz bedroht. Einstweilen wird die Gesellschaft ermächtigt, ihre Zahlungen auf drei Monate hinausschieben zu dürfen. Das allgemeine Urtheil lautet dahin, daß nicht Lesseps, sondern das französische Rett anchegelüste die Hauptschuld an dem jetzigen Mißlingen trage. Durch jenes Gelüste sei Frankreich so isolirt und die Culturwelt so gespalten, ( daß Frankreich jetzt einen Aufruf an die anderen Culturnationen nicht erlassen könne, dessen Erfolg unzweifelhaft wäre, wenn es seit achtzehn Jahren eine andere Politik befolgt hätte. Di? Unruhe und Aufregung, welche durch die fortwährenden Agitationen Handel und In- | dustrie des Landes in ihrer Entwicklung hemmen, äußern sich durch eiue Steigerung der Einfuhr ' und Verminderung der Ausfuhr. Die Differenz i zum Schaden Frankreichs betrug im Jahre 1888 nicht weniger als 842 Millionen Francs. Die Wahl Boulanger's für Paris, welche mit der kolossalen Majorität von 70.000 Stimmen am 2. Juni erfolgte, und der Mißerfolg des Gegencandidaten Jaquet wird schwerlich zur Be- ruhigung der Gemüther beitragen. Boulanger wird, er kann nun sagen, was er will, die Republik morden, wenn er nicht rechtzeitig unschädlich gemacht wird. Vor der Hand trat Ende Februar wieder einmal eine Ministerkrisis ein und übernahm Tirard die Bildung eines neuen Cabinets, das aus den Herren Rouvier, Cortans, Freycinetz Fayö, Failliöres, Mahy, Thevenet, Jaures und Ives Guyot bestand. j Dieses Ministerium hegte die löbliche Absicht, aufrührerische, gegen die Republik gerichtet^ Unternehmungen zu vereiteln, und beginnt mit Verfolgung und Auflösung der sogenannten Patriotenliga. Damit, wird ein entscheidender Schlag gegen Boulanger geführt, dessen Leibgarde diese enragirte Partei bildet. Die schon seit Jahren bestehende CorruptioN in Finanzkreisen tritt in dem berüchtigten Kupfe^ ring zu Tage. Es hatten sich einzelne SpeculanteN zusammengethan, welche alles Kupfer aufkaufteN, um dann den Preis dictiren zu können. Auw Die Pariser Weltausstellung.

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