72 Parlament nicht so gefügig wie das cisleitha- nische zeigt. Die Linke bestreitet die Nothwendigkeit einer Erhöhung des Recrutencontingentes, und Graf Apponyi ist es hauptsächlich, der die Regierungsvorlage bestreitet, da er durch das Wehrgesetz Tisza zu stürzen hofft. Es ist überhaupt die radicale Opposition, welche das seitherige Cabinet bei dieser Gelegenheit beseitigen will und zu den äußersten Mitteln greift. Der Appell an den Magyarismus regte die Gemüther am. meisten auf, nachdem zur Ablegung der Freiwilligen-Prüfung Kenntniß der deutschen Sprache verlangt wird. Die Studenten, welche sich am schwersten durch das neue Wehrgesetz betroffen fühlten, begannen am 16. mit den öffentlichen Demonstrationen, denen sich der Pester Pöbel, der sich immer gern bei Scandalen be- theiligt, anschloß. Die Polizei schritt sehr energisch ein, und es kam infolge dessen im Ab- „geordnetenhause zu furchtbaren Scenen. Graf Leo Thun-Hohenstein. DerKaifer verleiht mit Erlaß vom 16. Jänner dem jeweiligen Bischof von Krakau fürstlichen Rang. Zur Feier des dreißigsten Geburtstages des deutschen Kaisers fand am 27. Jänner beim deutschen Botschafter Prinzen Reuß ein großes Fest statt, dem auch Kronprinz Rudolf mit seiner erlauchten Gemahlin beiwohnte. Ersterer soll eine sehr heitere Stimmung zur Schau getragen haben, und Niemand konnte ahnen, daß dies die letzte Soiree sein würde, auf welcher der österreichische Thronerbe erschienen ist. Am Montag den 28. Jänner begab sich der Kronprinz mit kleinem Gefolge nach Schloß Meyerling in der ausgesprochenen Absicht, an seinem Werke „Oesterreich-Ungarn" zu arbeiten und an einer Kreisjagd theilzunehmen. Es waren ihm auch zu diesem Behufe die Correcturen des im Drucke befindlichen Heftes hinaus gesandt worden. Bereits in den Mittagsstunden des ver- hängnißvollen 30. Jänner verbreitete sich das Gerücht in Wien, dem Kronprinzen sei auf der Jagd ein Unfall begegnet. Alles strömte in die Hofburg, um nähere Daten in Erfahrung zu bringen, bis die Abendblätter die niederschmetternde Kunde brachten, der Prinz sei Mittags einem Herzschlage erlegen. Dieses furchtbare Erergniß, das in seiner Art ohne Beispiel in der Geschichte des Hauses Habsburg dasteht, lähmte in den ersten Tagen sozusagen alle Gemüther und ließ für nichts anderes mehr ein Interesse anfkommen. Es kann nicht in unserer, der Aufgabe des Chronisten liegen, an den ungeheuerlichen und fabulösen Ge- rächten, welche namentlich durch die auswärtigen Blätter über dieses entsetzliche Familienereigniß verbreitet wurden, Kritik üben zu wollen. Diese Cardinal Lavigerie. Sensationsnachrichtcu standen und stehen auch heute noch außerhalb der historischen Kritik. Nur die eine Frucht ist dieser schmerzlichen Kata- ftrophe entsproßen, die der Liebe, Theilnahme und herzlichen Anhänglichkeit an das Kaiser- Yau^., welche bei dieser traurigen Veranlassung wieder in ganz Oesterreich zu Tage traten. Nie- H™ bewahrte sich das Sprichwort „Unglück uhrt die Herzen zusammen", mehr, als bei dieser Gelegenheit. Und so wollen wir uns mit diesem Ergebniß begnügen und über Veranlassung und Nebenumstande des entsetzlichen Familenereig" nifiev den Schleier ungehoben lassen, den be- rusene Hande darüber gebreitet haben. die ganze österreichisch-unga- „Monarchie richteten in den Tagen des 30 Jänner bis 8. Februar, wo die sterblichen Ueberreste des hochbegabten einzigen Sohyes unseres Kaisers in der Ahnengruft beigesetzt wurden, ihre Blicke auf Ihn, auf die Hoffnung Staates und der Völker, auf Franz Josef I Aus seinem Munde sollte uns Wahrheit, Auf- "arung und Trost für die nächste Zukunft werden, und freimüthig wurde schon am 1. Februar amt- nch verkündet, der Kronprinz habe unter dem Zuflüsse einer momentanen Geistesstörung Hand V sich gelegt und durch Selbstmord geendet. Auch der Sectivnsbefund bestätigte diese Annahme. . So mußte einem finstern Wahnglauben, AUem verhängnißvollen Irrthum ein herrliches Geistesleben zum Opfer fallen, das berufen war, schönsten Ideale zu verwirklichen. _ Und in That hatte sich Kronprinz Rudolf schon als 8^?9ling auf ein Gebiet begeben, das auf den Hohen der Gesellschaft, in denen sich bewegte, nur selten culti- ^rt wird: Auf die Gebiete der .^^enschaft, Literatur und Kunst, welchen er sich nicht als ^lettant, sondern als Voll- '^chtigter bewährte. Ein junger pWui,^r die Befriedigung iklnes Ehrgeizes auf diesen edlen gen sucht, gehört, abgesehen .on hoher Stellung und Geburt, au und für sich zumGeistes- Dieser erhob ihn weit.über Alltagsmenschen, die sich auch A seiner nächsten Umgebung funden haben dürften. War es Verkennen seines besseren ^ust, die Unmöglichkeit, seine ^oeale erreichen zu können — dermag die Seelenkämpfe '.childern, die seinem finstern Schluß vorhergegangen sein »«, die ihm Kraft und f nsntuth benahmen und ihn ole Pflichten seiner hohen an Eltern, Weib und ^ vergessen ließen! sra ^si vergebens, hier nach Gründen zu ^^u; nur der Vermuthung bleibt ein weites A£ und auf dieses hat sich der Chronist nicht Gegeben. Hz, ^.user Kaiser hat sich während dieser ver- rvip?Ulßvollen Tage als Mann und Held er- bei ^s Pflichtgefühl als Herrscher überwog alle anderen -Rücksichten, und in dem eiUe Völker gerichteten Manifest erklärte er, unverbrüchlich seine Regentenpflichten zu v,,eses furchtbaren Schicksalsschlages erfüllen bes^ollen. Dies wurde auch allen fremden und undeten Regierungen mitgetheilt. sterblichen Ueberreste des so tiefbe- r Prinzen wurden am 31. Jänner von : 9 in die Hofburg übertragen. Eben so u Mein wie die Trauer, waren auch die Kund73 gedungen derselben. Eine Aufregung, wie sie in diesen Tagen in Wien und wohl auch in der ganzen österreichisch - ungarischen Monarchie herrschte, steht ohne Beispiel in der Geschichte da. Vrele Menschen wurden wahnsinnig, Einzelne endeten durch Selbstmord. Aus den entferntesten Ländern gelaugten Nachrichten über den tiefen Eindruck, welches dieses furchtbare, unerhörte Erergniß hervorgernfen, an. Am 3. Februar, Nachmittags 4 Uhr, fand das Leichenbegüngniß und die Beisetzung in der kaiserlichen Familiengruft bei den Kapuzinern statt. Damit hat das für die österreichisch-ungarische Völkerfamilie so verhängnißvolle Trauerspiel seinen Abschluß befunden. Politische Consequenzen können demselben nicht erwachsen; die ErbscHge ist durch die pragmatische Sanction Erzherzogin Valerie und Franz Salvator von Toscana. gesichert, und unser Kaiser steht noch im kräftigsten Mannesalter und erfreut sich der besten Gesundheit. Die Politik stand während dieser acht düstereit Tage in Europa förmlich still; dieses unerhörte Ereigyiß drängte alle anderen Interessen in den Hintergrund, und nur nach und nach gelangten die Tagesfragen wieder in die früheren Geleise zurück. Das Abgeordnetenhaus nahm wieder seine Sitzungen auf und beschäftigte sich mit der Durchberathung des Budgets. Auch in Budapest trat der politische Fanatismus während dieser Schmerzenstage in den Hintergrund, um dann aber im Abgeordnetenhause mit erneuerter Wuth auszubrechen. Die kaiserliche Familie begibt sich am
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