Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1889

3 „Lebe wohl, meine Jugend!" rief er, als er die Regierung antrat, und der damalige amerikanische Gesandte berichtete an seine Regierung über diesen Ausruf. Es war ein hochherziges Wort für einen Jüngling von kaum 19 Jahren, denn es sprach von der Uebernahme der Pflichten und der ernsten Hingabe an eine schwierige Aufgabe. Seine erste Aufgabe war es das Heer- für sich zu gewinnen; denn in ihm lag nicht allein die Stütze des Thrones, sondern auch des Reiches selbst. Grillparzer sandte damals an Radetzky das geflügelte Wort: „In Deinem Lager ist Oesterreich!» und der junge Kaiser schrieb ihm: „Mein lieber Graf! Ich lade Sie als Mann von Ehre ein, Mir mit festem Sinn und freiem Wort zur Seite zu stehen. Ich bedarf Ihren Rath und Ihre Unterstützung.»' In unserem Kaiser war etwas von dem Geist und Wesen seines großen Urahns, des Kaisers Maximilian, des letzten Ritters. Ein brillanter Reiter, ein kühner, unerschrockener Soldat, empfing er schor bei Santa Lucia unter den Augen Ra- detzky's die Feuertaufe. Das Heer jubelt, seinem ritterlichen Kaiser, wo er sich nm unter seinen Soldaten sehen ließ, zu, mü noch heute, uach 40 Jahren, ist er in seiner Erscheinung geblieben, was er schor damals war: ein ritterlicher Kaiser! Aber nicht allein die Herzen seiner Soldaten wußte er für sich zu gewinnen- Gleich nach dem Antritt der Regierung wurde die Einführung des freien Zutrittes getroffen. Die strenge Hofetiquette war ihm verhaßt. Dem geringsten seiner Unterthanen war er zugänglich, jedem zeigte er ein aufmunterndes Wohlwollen, und wenn sein Vorgänger den Beinamen des Gütigen vom Volke erhielt, so wurde unserem Kaiser schon vor 40 Jahren derbes Freundlichen zntheil. Und so ist es auch heute noch der Fall. Wer bei unserem Kaiser oft nach zwei- und mehrstündiger Audienz noch vorgelassen wird, findet ihn selbst dann noch nicht ermüdet. Elastischen und raschen Schrittes schreitet ^ dem Bittsteller entgegen, die Zaghaf- tlgkeit weiß er durch aufmunternde freundliche Worte zu beseitigen, und sein ^dles Herz ist stets zum Wohlthun ge- "kigt, so daß die Fonds der Cabinets- ^sse gar oft erschöpft sind. Schon beim Regierungsantritt zeigte es sich, daß der junge Monarch einen sehr ernsten Sinn s^ud eine überraschend leichte Auffassung m den schwierigsten Staatsgeschüften bethätigte. Nach der ersten Staatsraths- .p - Nach einer Handzeichnung des Kaisers. s^ung, welcher der Kaiser präsidirte, Ußerte sich Fürst. Schwarzenberg: „Die 2-^ftuüdete Aufmerksamkeit und das Äffende seiner Bemerkungen machte ^9 uns Alle den Vortheilhaftesten Ein- ruck." Bon frühester Jugend auf an r Tätigkeit gewöhnt, ist unser Kaiser noch t Ute ein Frühaufsteher. Während der ^hte Theil seiner Beamten noch in .Morpheus' Armen ruht, befindet er — * erste Beamte seines Reiches — sich schon um 5 oder 6 Uhr bereits am Schreibtisch. Er widmet der Erledigung der kolossalen Masse von Geschäftsstücken die gewissenhafteste Aufmerksamkeit. Unterstützt von einem ganz außerordentlichen Gedächtniß und einem seltenen Sprachentalent, entgeht ihm nichts, und es ist schon häufig vorgekommen, daß er Verstoße, die in der Cabinets- kanzlei vorkamen, noch rechtzeitig entdeckt hat.- Auch sein Personengedächtniß ist ein ganz außergewöhnliches. Er vergißt nicht leicht Einen, der ihm schon einmal vorgestellt war, und erinnert sich sogar an die Einzelheiten. Es soll sich beispielsweise begeben haben, daß ein Bittsteller, der vor Jahren betheilt worden war, später wieder ein Gesuch unter falschem Namen einreichte. Der Kaiser erinnerte sich aber auf die Person und der Betrug wurde aufgedeckt. Das sind Eigenschaften, die einem

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