Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1889

80 König Karl begibt sich Mitte März nach Berlin und ist über die dort empfangenen Eindrücke im höchsten Grade befriedigt. Die Bojaren und der durch den russischen Rubel aufgehetzte Pöbel theilen aber nicht die Politik des Königs und sind russisch gesinnt. Am 27. März kommt es zu einem förmlichen Sturm auf den königlichen Palast und die Deputirteu- kammer. Es kamen eine Menge Verwundungen und Verhaftungen vor, worunter auch die Herausgeber eines russophilen Blattes. Die Dorobanzen werden aber mit den Aufrührern schnell fertig und wird gegen dieselben mit großer Strenge vorgegangen. Die Untersuchung ergab eine förmliche Verschwörung zum Sturz der Negierung und trat es mehr und mehr zu Tage, daß bei all diesen Umtrieben der russische Consul Hitrowo die Hand im Spiel hatte. Bratiano demissionirt anfangs April unwiderruflich und am 3. wird ein Ministerium Rosetti gebildet. Die Verschwörer tragen nun die Empörung auf das flache Land und hetzen die Bauern auf. Die entsandten Truppenäbtheilungen dämpfen aber allmälig den Aufstand. Am 8. Mai versucht Fantanareano ein Attentat auf den König. Bulgarien. Unter dem Schutz der Nichtinterventions» politik consolidiren sich die Verhältuisse in diesen: kleinen Staate, der den.Zankapfel Europas unausgesetzt bildet. Bulgarien betrachtet sich als unabhängiges Land und an seinem freiwillig gewählten Beherrscher Prinz Ferdinand von Coburg prallen alle Drohungen und Demüthigungen, die ihm selbst Bismarck, der ihn als einen auf Urlaub befindlichen ungarischen Officier behandeln läßt, anthut, vollständig ab. Von keiner europäischen Macht anerkannt, wird er doch von allen geduldet und bildet dadurch den Hort des Friedens, der alle russischen Umsturz- und Revolutionsgelüste niederzuhalten weiß. Der Belagerungszustand wurde deshalb im September aufgehoben und der alte Verschwörer und Russenfreund Karawelow mußte sich während der Zerstörung seines Hauses flüchten. Der Zwischenfall mit dem deutschen Consul in Nustschuk, der sich für beleidigt hielt, wurde auch gütlich beglichen. Das Erscheinen der ersten Locomotive zu Sophia am 6. November ist das günstigste Zeichen für die cnlturelle Entwicklung, die sich durch alle Hetzereien und Aufwiegelungen Rußlands nicht aufhalten läßt. Prinz Ferdinand erwirbt sich durch den internen Fleiß, mit welchem er sich den Negierungsgeschäften widmet, mehr und mehr die Sympathien des Landes, und seine Regierung fühlt sich deshalb stark genug, die im russischen Sold stehenden uud inhasicten Verschwörer freizulassen. Gleich darauf versucht anfangs Jänner der Russe Nabokow mit Hilfe einer Bande Montenegriner einen Putsch anzuzettetn, der aber schmählich vereitelt wird. Der Anführer wird von den bulgarischen Truppen erschossen. Den Umtrieben Rußlands gelingt es anfangs März, die Pforte zu bestimmen, die Wahl des Prinzen Ferdinand für illegal zu erklären. Dabei hat es aber auch sein Bewenden, denn dieser Erklärung durch ein Armeecorps Nachdruck zu verleihen, dazu hat die türkische Regierung absolut keine Lust. In dem Defraudationsproceß Popov und Genossen, der anfangs Mai entschieden wird, sagte der Angeklagte unter anderem aus, man habe ihn mit 200.000 Rubeln bestechen wollen. Amerika. Das Land der freisinnigsten republicauischen Organisation tritt gleichwohl allen anarchistischen Tendenzen mit größter Strenge entgegen. Nach Niederwerfung der Revolte in Chicago wurde sieben anarchistischen Rädelsführern der Proceß gemacht. Lingg tödtete sich am 10. November im Gefängniß, die anderen wurden aber ohne Gnade gehängt. Die von der Schwesterrepnblik Frankreich gewidmete Freiheitsstatue wurde im vorigen Jahre unter großen Feierlichkeiten in New-Aorl aufgestellt. Sie ist das in ihren Dimensionen kolossalste Bildwerk aller Zeiten und zählt zu den Wundern der Welt. Kurze KHronik von Steyrs. Lon Äufallg Äugust >887 bis Ende Äugust >888. Die verflossene Jahresfrist, auf welche hiemit ein kurzer historischer Rückblick geworfen werden soll, war eine der ereignisreichsten in der nennhundertjährigeu Geschichte der Stadt Steyr, denn unverschuldet und ungehofft trafen dieselbe Schicksalsschlägc, welche dem Gemeinwesen tiefe Wunden schlugen. Die Bürgerschaft uud ihre Vertretung sahe» sich dadurch in die Nothwendigkeit versetzt, Einrichtnngen Bahnhof Stehr der Stehrthalbahn. zu treffen und Unternehmungen jn's Leben zu rufen, welche diese Wunden zuni Theile heilen unb die Existenzbedingungen der Stadt in Hin- kunft mehr von der eigenen Kraft, als von äußeren, unberechenbaren und uucontrolirbaren Einflüssen abhängig machen sollen. ... Anfangs August des Jahres 1887 brachten sämmtliche Zeitungen die Nachricht, daß die Aufhebung einer-Reihe von Mittel- Ich ulen beschlossen sei, darunter auch die Aufhebung der Oberrealschule in Steyr, ^m politischen Leben wurde dieser Beschluß oes Unterrichtsministeriums als eine anti- slavische Kundgebung aufgefaßt, da in der Mehrzahl slavische Mittelschulen und darunter chlch einige deutsche aufgelöst wurden. Es liegt daher die Annahme nahe, daß die Aufhebung der deutschen Mittelschulen in politischer Rich- umg blos deßhalb geschah, um die Aufregung der Slaven über die Auflösung der tschechischen Mittelschulen durch den Hinweis auf die gleichzeitige Auflösung der deutschen zu besänftigen. Das Unterrichtsministerium motivirte die Aufhebung durch den schlechten Besuch der Oberrealclassen und durch die Absicht, durch Verringerung der Mittelschulen das Gelehrten- Proletariat zu vermindern. Demgegenüber stehen jedoch die Thatsachen, daß in Oberösterreich nur zwei Oberrealschulen bestehen, vou denen die in Steyr besser besucht war, i als die in Linz und auch der meisten, nicht aufgelösten Realschulen. Andererseits kann gewiß nicht behauptet werden, daß in Oberösterreich und im Steyrer Bezirke bereits ein Ge- lehrten-Proletariat vorhanden sei, das durch die Oberrealschule großgezogen worden wäre. In derZAemeiuderaths- Sitzung am K.Mugust wurde über die Maßregel berathen und beschlossen, eine DeputUion an den Unterrichts-Minister zu senden, welche um die Zurücknahme der Verordnung hinsichtlich der Steyrer Oberrealschule bitten sollte. Die Deputation, bestehend aus den Herren Bürgermeister kais. Rath Georg Pointuer und de>l Herren Gemeinderäthen Johann Berger und Friedrich Brandl, wurde am 8. August vom Herrn Unterrichtsminister Dr. v. Gautsch , empfangen und mit ihrem Begehren rundweg ; abgewiesen. ^Der Herr Minister erklärte, er ' 6

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