Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1889

78 79 Gefängnißhaft, 3000 Francs Geldbuße und fünfjährigem Verlust der bürgerlichen Rechte verur- theit. Der Appellsenat hob dieses Urtheil wohl auf, aber der Schwiegersohn des vormaligen Präsidenten bleibt in der öffentlichen Meinung gerichtet. Der Boulangismus treibt lerne Blüthen fort, und wenn wir seiner Wesenheit auf den Grund sehen, so erfahren wir, daß er trotz aller gegentheiligen Versicherungen gegen die Republik gerichtet ist. Ein ehrgeiziger General, der sich durch allerlei unsaubere Mittel eine gewisse Popularität zu erringen wußte, strebt nach der Militärherrschaft und ist schließlich doch nur das Werkzeug der Orleans oder Napoleoniden, dre durch ihn ans Ruder kommen wollen. Das ist der Boulangismus, der dem großen Haufen die Wiedererlangung von Elsaß-Lothringen in Aussicht stellt. Der französische Kriegsminister fand aber dieses Treiben eines Generals - unwürdig rind Mr. Boulanger erhielt den sogenannten blauen Bogen. Damit wurde seiner militärischen Action ein Ziel gesetzt. Er tritt als Deputirter in die Kammer und wird zunächst eine Revision der Verfassung durchzubringen versuchen. Der80jährigeVater des Präsidenten, der Senator Carnot, stirbt am 18. März und wird mit großen Ehren beerdigt. General Boulanger wird am 26. März vor einen militärischen Untersuchungsrath gestellt und das Urtheil dem Präsidenten anheimgestellt, welches auf Versetzung in den Pensionsstand lautete. Diese Verurtheilung und die gleichzeitige Freisprechung Wilson's machen ungeheures Aufsehen in ganz Frankreich. Am 30. März erleidet das Ministerium Tirard in der Deputirtenkammer eine Niederlage. Es wird ein neues unter Floquet gebildet. Nachdem man aus Boulanger einen politischen Märtyrer gemacht, gewinnt er neuerdings an Popularität und wird mit kolossaler Majorität als Deputirter gewählt. Am 19. erschien er von dem Halloh seiner Anhänger geleitet zum erstenmal in der Kammer. Unter den Pariser Studenten bildet sich ein Corps von Anti-Boulangisten. Der Präsident wird auf seiner Rundreise durch Frankreich auf das sympathischeste aufgenommen, und die Bevölkerung spricht sich aller Orten für die Erhaltung der Republik aus. Boulanger's Antrag am 4. Juni in der französischen Kammer auf Revision der Verfassung und Auflösung der Kammer wurde dagegen verworfen. Der Dictator in spe spielte eine recht klägliche Rolle bei seiner Jungfernrede, die er ablas, und sein Stern erbleichte von nun ab mehr und mehr. Der Ministerpräsident Floquet sah sich übrigens veranlaßt, dem Bramarbas im Juli eine Herausforderung zuzusenden, und verwundete denselben am Halse. Bonlanger kam wohl nach 14 tägiger Heilung glücklich davon, aber die Blamage bleibt ihm für alle Zeiten. Bei seiner insularen Abgeschlossenheit sollte sich eigentlich Großbritannien um die europäischen Händel nicht kümmern. Aber es bleibt doch von den großen Fragen der Zeit nicht verschont. Die Anarchisten haben dort schon seit Jahren ihre Heimstätte gefunden, halten Ende September einen förmlichen Con- greß ab und gleich daraus brechen nach einander Arbeiterunruhen aus, die London in Angst und Schrecken versetzen und am 13. November in offenen Aufruhr ausarten. Ueber 200 Bürger und 40 Polizisten werden verwundet. Die Zahl der getödeten und verletzten | Arbeiter konnte nicht ermittelt werden. Sonst hatten Ministerium und Parlament keine Ursache, in Auf" Wilson. regung 31t gerathen. Ersteres steht unter den« energischen Salisbury gefesteter wie je da un» das Parlament wird nur durch den halbver rückten Gladstone und die Home Rulers tn M wegung gesetzt. Die Irländer verlangen rhre Rechte, und trotz der Ermahnung des heilige" Vaters, der weltlichen Obrigkeit zu gehorchen, zetteln sie unausgesetzt Ausstände an. , Die allgemeinen Rüstungen, zu welchen f^ die europäischen Staaten im Interesse des FrA dens veranlaßt sehen, lenken endlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf den mangelhaften Berthes, qungsznstand des eigenen Landes. Mitte Ata finden die ersten Debatten darüber im Parlamen statt lind wird dem Kriegsminister ein Credit m Flotte, Heer und Küstenvertheidigung bewillig" Spanien erfreut sich unter der Regentjchai der eben so staatsklngen wie gütigen König'" Witwe nicht allein eines Culturaufschwunges '' industrieller und geistiger Richtung, sondern auch einer politischen Ruhe, wie eine solche seit Decen- nien in dem von Factionen zerrissenen -and nicht mehr vorkam. Der Tod des Kaisers von ..Marokko erweckt in einer gewissen Partei Eroberungsgelüste, allein die Politik der Regentin laßt dieselben nicht aufkommen. Das bemerrens- wertheste Ereigniß ist die am 20. Mai vom. kleinen zweijährigen König in Person eröffnete Weltausstellung in Barcelona, 511 welcher sich Flotten aus aller Die Freiheitsstatue in New-Yort. Herren Ländern einfanden. Serbien. Dieser größte unter den Balkanstaaten ist unausgesetzt von der Parteienwuth zer- rissen. Im October siegen die Radica- len über die Liberalen, und der Russophile Ristie kommt ans Ruder, traut sich aber doch nicht, entschieden Front gegenOester- ceich zu machen. Durch die Eröffnung der Sobranje nm 28- October wird ein Ausgleich zwischen den hadernden Parteien zu Stande gebracht. Der König betont aber in einer sehr energischen Rede, daß er des Haders müde sei nnd mit unerbittlicher Strenge gegen alle Auflehnungen gegen die gesetzliche Gewalt vorgehen würde. Das Ministerium Ristio fällt SM am 17. Februar, es entsteht eine Ministerkrisis, dre erst Ende April durch Garaschanin zu Ende geführt wird und mit der Ernennung Kristie abschließt. Am 1^. Mar kommt König Milan wieder nach Wien, wo er sich am wohlsten befindet. Er erkennt die Erhaltung seiner Dynastie und die Unabhängigkeit seines Landes nur unter Oesterreichs Schutz für möglich, während seine Gemalin, eine geborene Russin, entschieden für die Interessen der russischen Politik osten und im Geheimen intrigmrt und dafür einen großen Anhang im Lande gewonnen hat. Es entstehen dadurch Conflicte, welche zur Trenmliig führen. Königin Natalie verläßt Reich und Geinal und geht mit dem Thronerben zunächst nach Italien iind dann nach Wiesbaden. Da alle gütlichen Ermahnungen zur Rückkehr erfolglos bleiben, so läßt der König anfangs Juli durch die Synode die Scheidung der Ehe procla- miren, in welche die Königin aber nicht einwilligt. Wie wir bereits oben berichtet, ist dieKönigin zurAusfolgung des Kronprinzen bewogen worden und wurde derselbe enthusiastisch in Belgrad empfangen. Rumänien huldigt seiner Nichtinterventionspolitik nach wie vor; es würde zu den Staaten gehören, welche, weil man von ihnen am wenigsten spricht, die besten sind, wenn es sich nicht durch einen rigorosen Zollkrieg gegen Oesterreich- Ungarn bei unseren Fabrikanten sehr unbeliebt gemacht hätte. Der orientalischen Frage geht es so viel als möglich aus dem Wege, befestigt aber in aller Stille seine Grenzen, um eine russische Invasion zu erschweren. Es hält Frieden mit allenMäch- ten, schickt aber doch seinen Minister Stourdza zu Bismarck sicher nicht, um gegen Rußland zu con- spiriren. Dasselbe sucht durch seinen Consul Hitrowo wegen dessen Stallknecht Scandal zu machen, die Sache wird aber beigelegt. Gefährlicher gestalten sich die aller Orten auftauchenden Bauernaufstände, bei denen der russische Rubel eine große Rolle spielen soll. Das Ministerium Bratiano, welches durch seine weise Politik Rumänien vor allen Conflicten bewahrt hatte, unterliegt anfangs März den Angriffen der Radicalen.

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