Ratsprotokoll vom 16. Dezember 1910

in Form einer Gemeindeabgabe eingekleidet werden könnte, erklärt jedoch weiters, daß aber auch die übrigen öffentlich¬ rechtlichen Korporationen, der Staat und die Länder, durch ihre weiter ausgreifenden Organisationen der gesamten wirt¬ schaftlichen Tätigkeit im allgemeinen und des Handels und Verkehres im besonderen gleichfalls sehr erheblich zu den ein¬ getretenen Wertsteigerungen beitragen, weshalb auch ihnen der Anspruch, an dem Ertrage einer Abgabe von dieser Wert¬ steigerung teilzunehmen, nicht abgesprochen werden kann. Um diesen scheinbaren Anspruchskonflikt der drei Fak¬ toren — Staat, Land und Gemeinde — auf die neue Steuer zu lösen, muß man zunächst, was das Verhältnis zwischen Land und Gemeinde betrifft, eine Unterscheidung machen, zwischen den Landeshaupt= und größeren Provinzstädten einer¬ seits und den übrigen kleineren Gemeinden andererseits. An der Tatsache, daß der Bodenwertzuwachs in den Städten ausschließlich nur durch kommunale Investitionen, jedenfalls aber nicht durch die Aufwendungen der Länder hervorgerufen wird, kann wohl mit Recht nicht gerüttelt werden. Es wurde sodann folgender Antrag angenommen: Der Städtetag wolle beschließen, die Regierungsvorlage betreffend die Wertzuwachssteuer ist für die Landeshauptstädte und größeren Städte überhaupt unannehmbar und wird der ständige Ausschuß des Städtetages beauftragt, ehestens eine Petition an die Regierung um Zurückziehung der in Rede stehenden und Einbringung einer neuen Regierungsvor¬ lage im Sinne der heute im Gegenstande vorliegenden Aus¬ führungen einzubringen, wobei als Gesetzesentwurf für die den Städten zuzuwendende Wertzuwachssteuer der vom VI. österreichischen Städtetag beschlossene Entwurf als Grundlage zu dienen hätte. Bei Erlassung des Rahmengesetzes für die übrigen Ge¬ meinden ist eine Bestimmung zu treffen, zufolge deren in dem Zeitpunkte, als in der betreffenden Statutarstadt die Zuwachs¬ steuer gesetzlich eingeführt wird, auch die Umgebungsgemeinden zur Einführung einer solchen Steuer verpflichtet sind. Der Städtetag hat sich noch weiter mit dem Entwurfe be¬ treffend die Einführung der Wertzuwachsabgabe befaßt und ist dieser Entwurf mit der schon in Deutschland bestehenden Ge¬ setzgebung in Vergleich gebracht worden. Entwurf eines Gesetzes über Fürsorgeerziehung. Der österreichische Gesetzentwurf hat im wesentlichen fol¬ genden Inhalt: Fürsorgeerziehung ist Erziehung unter öffentlicher Auf¬ sicht und auf öffentliche Kosten zur Verhütung drohender oder zur Behebung eingetretener Verwahrlosung. Die Fürsorge¬ erziehung kann zugunsten Unmündiger und Jugendlicher, das ist Personen zwischen dem vollendeten 14. und 18. Lebensjahre, verfügt werden, wenn mangels einer anderen geeigneten Ab¬ wehrmöglichkeit die öffentlich=rechtliche Erziehung zur Ver¬ hütung oder Behebung der Verwahrlosung notwendig ist und die Erziehungsbedürftigkeit entweder a) durch Verschulden der Eltern (Vernachlässigung der elterlichen Pflichten, Mißbrauch der Elternrechte, ehrloses oder unsittliches Verhalten der Eltern) oder v) „wegen des Fehlens oder der Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern, sonstiger Erzieher oder der Schule“ herbeigeführt wurde, oder c) durch die Straffälligkeit des Unmündigen oder Jugendlichen offenbar wird (§§ 1 u. 2). Nach diesem Entwurfe würde, wie ja in den meisten Fällen, der Großteil der Kosten den Gemeinden aufgehalst, und zwar in diesem Falle ½ der Kosten. In diesem Gesetz kommt es zum erstenmal vor, daß die Aufenthaltsgemeinde zur Zahlung verpflichtet ist. Das wäre für eine Stadt ein Ruin und hat daher dieser Gesetzentwurf den größten Widerspruch bei den Delegierten hervorgerufen. Es wurde folgender Antrag an¬ genommen: Der von der Regierung dem Reichsrate vorgelegte Ent¬ wurf eines Gesetzes über die Fürsorgeerziehung bedarf zu Wahrung berechtigter Interessen der österreichischen Städte olgender Abänderungen und Ergänzungen: 1. In Beziehung auf die Voraussetzungen der Fürsorge¬ erziehungen: In einem Zusatze zu § 1 oder in einem speziellen Paragraphen wäre ausdrücklich hervorzuheben, daß die Be¬ timmungen des Gesetzes vom 3. Dezember 1863, R.=G.=Bl. Nr. 105, durch das Gesetz über die Fürsorgeerziehung nicht berührt werden, daß daher die Gemeinde in Ausübung ihrer Armenversorgungspflicht für die Erziehung von Kindern, die verwahrlost sind oder zu verwahrlosen drohen, nur dann zu sorgen hat, wenn die Verwahrlosung oder Verwahrlosungs¬ gefahr ausschließlich durch die wirtschaftliche Not der Erzeuger verursacht ist. 2. In Beziehung auf das Verfahren: a) Das Vormundschaftsgericht entscheidet über die Ueber¬ weisung zur Fürsorgeerziehung unter Zuziehung von zwei vom Gemeindeansschuß der Aufenthaltsgemeinde des Minderjährigen bestimmten Organen der öffent¬ lichen Armenverwaltung; b) das Vormundschaftsgericht hat vor der Beschlußfassung in allen Fällen die Gemeindevorstehung einzuvernehmen; c) alle Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern sind antrags= und daher auch beschwerdeberechtigt; d) wenn auch der Antrag auf Fürsorgeerziehung nicht von der Gemeinde ausgegangen ist, steht ihr dennoch ein Beschwerderecht in solchen Fällen zu, wo ihr aus dem Beschlusse des Gerichtes eine Leistungspflichst erwähst. 3. In Beziehung auf die Kostenfrage: a) § 30, al 2 hätte zu lauten: Die Kosten der Fürsorge¬ erziehung werden zunächst von dem Lande bestritten, in dem sich der Heimatsort des Zöglings befindet. b) § 34 hätte zu lauten: Der Landesgesetzgebung bleibt es vorbehalten, die Heimatgemeinde des Zöglings zum Er¬ satze der Hälfte der Kosten der Fürsorgeerziehung, soweit sie nicht nach § 32 hereingebracht werden, zu verpflichten. 4. Zur wirksamen Verhütung und Bekämpfung elter licher Gewissenlosigkeit: Falls die Fürsorgeerziehung infolge schuldhaften Verhaltens der Eltern notwendig ist, a) wird der schuldtragende Vater auf die Dauer der Für¬ sorgeerziehung seines aktiven und passiven Wahlrechtes in Beziehung auf alle öffentlichen Körperschaften verlustig; b) bewirkt die Anordnung der Fürsorgeerziehung eine Unterbrechung der Ersitzung des Anspruches auf Auf¬ nahme in den Heimatverband, so zwar, daß der Lauf der neuen Aufenthaltsfrist erst mit der Beendigung der Fürsorgeerziehung beginnt: e) sind die Eltern oder der schuldtragende Vater (Mut er), alls die Kosten der Fürsorgeerziehung von ihnen nicht einbringlich sind, im Wege des Verwaltungszwangsver¬ fahrens in ein Arbeitshaus einzuweisen und dort so lange zwaugsweise zurückzuhalten, bis durch den Wert der dort geleisteten Arbeit, bezw. den hierauf entfallenden und einzuziehenden Lohn die Fürsorgekosten gedeckt sind. Der nächste Gesetzentwurf betrifft die Sozialversicherung und deren Rückwirkung auf die Gemeinden. Die Sozialversicherung wird von den Städten auf das lebhafteste begrüßt und gewünscht. Bei den Beratungen hierüber wurde viel über die Art des Klassensystems und der Entschädigung gesprochen. Es wurde der Wunsch ausgedrückt, daß die Versicherung solche Quoten ausbe¬ zahle, daß die Versicherten nicht wieder der Armenversorgung anheim fallen. Für die Armenbehörde ist es unerläßlich, von jeder Rentenzuerkennung Kenntnis zu erlangen. Die Armen¬ behörde hat ein Interesse daran, daß alle Versicherten in vollem Ausmaße das erreichen, worauf sie nach dem Gesetze Anspruch haben, und daß sie nicht aus Nachlässigkeit oder schuldbar die Wahrung ihrer Rechte versäumen. Die Armenbehörde muß daher berechtigt sein, jederzeit in das Verfahren als Prozeßpartei neben dem Versicherten einzutreten. Das Interesse, das sie dort ver¬ tritt, ist ident mit dem Interesse des Rentenwerbers. Sie ist daher sein natürlicher Anwalt. Die Armenbehörde muß ferner auch das Recht haben, das Verfahren statt des Versicherten selbst¬ tändig in Gang zu bringen. Die nämliche Befugnis wäre bei treitigen Ansprüchen an die Krankenkassen erwünscht. Es wurde folgender Beschluß beantragt und angenommen: Der .. österreichische Städtetag erachtet vom Stand¬ punkte der öffentlichen Armenpflege die folgenden Abänderungen des Gesetzentwurfes, betreffend die Sozialversicherung, für dringend geboten: 1. In Beziehung auf die Krankenversicherung. a) In die obligatorische Krankenversicherung wären auch die Hausgewerbetreibenden und jene Personen einzubeziehen, die bestimmte Arbeits= oder Dienstverhältnisse nicht eingehen, ondern ihre Arbeit an verschiedene Auftraggeber vermieten. Bedienerinnen, Hausnäherinnen, Hauswäscherinnen usw.)

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