Zwei Jahre Dollfuß - Zum 20. Mai 1934

Die Regierung hatte aus dem Verlaufe der letzten Parla– mentskrise die Überzeugung gewonnen - und sie stand damit nicht allein, sondern fand sich in vollster Überein– stimmung mit der längst parlamentsmüden großen Mehr– heit der Bevölkerung - , daß ein auf rein parteipolitischen Grundlagen aufgebautes Parlament der Aufgabe einer wirklichen Volksvertretung nicht gerecht werden könne, daß es keine Repräsentation des Gesamtinteresses, der Volksgemeinschaft, darstelle, sondern im Gegenteile die Koordinierung der Bedürfnisse der einzelnen Bevölkerungs– schichten und deshalb auch fruchtbare Zusammenarbeit unmöglich mache. Das Volk mußte aber nach der Ansicht des Bundeskanzlers eine entsprechende Vertretung erhalten und deshalb ließ er sofort nach der Selbstausschaltung des Parlaments die Vorarbeiten für eine Verfassungsreform einleiten, die das öffentliche, politische Leben auf eine den Anforderungen der Zeit und der geschichtlich gewordenen Eigenart der Bevölkerung entsprechende Grundlage stellen sollte. Der Gedanke, der den Bundeskanzler dabei leitete, bestand in dem Grundsatze, die parteipolitische Vertretung auszuschalten, da durch sie die kulturellen und materiellen Interessen der einzelnen Berufsschichten auseinandergehal– ten und gegeneinander mobilisiert werden, diesen aber eine unmittelbare Anteilnahme an den gesetzgeberischen Arbeiten zu sichern, Raum für die Entwicklung echter Selbstverwaltung zu schaffen und so das Volk zum un– mittelbaren Träger des staatlichen Gemeinschaftslebens zu machen. - Die berufständische Gliederung des Volkes war die durch die Natur gegebene Grundlage des politi– schen Neuaufbaues, in dem durch Entwicklung ständischer Selbstverwaltung der Staat von Funktionen entlastet wer– den kann, die er seiner Natur nach nicht zweckent– sprechend auszuüben vermag. Diese Konzeption der Verfassungsreform bewies am deutlichsten, daß dem Bundeskanzler absolutistische Neigungen völlig fremd waren, weil der absolute Staat, da 9

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