212 täuschung zum Grunde. Nur ein Verkennen der durch die Geschichte nachgewiesenen Entwickelung des geistigen Le¬ bens, der Macht der Wahrheit und der Umbildung gesell¬ schaftlicher Verhältnisse kann den Irrthum erzeugen, daß Schriftsteller allein obei einzelne Unzufriedene eine Umge¬ staltung hervorbringen können. Wohl muß zuerst eine neue Idee aus dem Kopfe eines Einzelnen sich entwickeln, und die Erkenninig der Mängel des Bestehenden und der Art der mögiichen Verbesserung dem Geiste Einzelner vorschwe¬ ben. Das Häuflein derjenigen, die zu dieser Erkenntniß gelangen, wird anfangs klein sein, weil die Mehrzahl durch die Macht der Gewohnheitsund der Bequemlichkeit beherrscht wird und weder Geist genug hat die Mängel zu erkennen, noch Muth genug besitzt, das, was sie fühlt, auszusprechen. Wohl mag die Ueberredung Einzelner auch Andere bewegen, und Schlauheit, die ihre Pläne hinter dem Aus¬ hängeschild blendender Neuerungen zu verstecken versteht, ober Schwärmerei, die auf die Gemüther der leicht beweg¬ ten Menge wirkt, eine momentane Aufregung hervorbrin¬ gen, deren Folgen Unruhen und leidenschaftliche Bewegun¬ gen sind; allein eine solche Aufregung geht bald spurlos vorüber, weil sie keine Wurzel hat. Sobald aber neue Ideen und Ansichten der Einzelnen Anklang auch bei den¬ jenigen finden, welche im Stande sind, ein Vertrauen ein¬ flößendes Urtheil über die in Frage stehenden Gegenstände zu fällen, sobald das ernste Nachdenken über die Gegen¬ wart, über ihre Zustände und die Ursachen ihrer Mängel allgemeiner geweckt ist, sobald das allgemeine Gefühl des Unzulänglichen des Bestehenden alle Gemüther durchdringt, treten die Ideen und Ansichten, welche anfangs von We¬ nigen erkannt und schüchtern ausgesprochen, einem kleinern Kreise angehörten, in den größern Kreis heraus. Die Wissenschaft macht nun ihr ernstes Prüfungsrecht geltend und wägt die Gründe und Vorschläge ab. Was lange schon in den Gemüthern der Bürger schlummerte, was nur unklar ihnen vorschwebte, gelangt allmählig zum Bewußt¬ sein. Aus den Hallen der Wissenschaft tritt nun das Er¬ gebniß der Forschungen heraus auf den lauten Markt; das Nachdenken derjenigen, welche nach ihrer Stellung be¬ rufen sind, die bestehenden Vorschriften anzuwenden, wird angeregt; die Theilnahme derjenigen, welche durch die An¬ ordnungen zunächst betroffen werden, wird lebhafter. Der einmal durch diese Theilnahme zur Erforschung aufgefor¬ derte menschliche Geist bemächtigt sich der neuen Ideen und Ansichten und popularisirt sie. Aus dem Kampfe der For¬ schungen und Ansichten entwickelt sich nun allmählig eine feste Meinung, die eine öffentliche geworden ist, weil sie in dem allgemein gefühlten Bedürfnisse und in den Fort¬ schritten der Zeit ihre Wurzel hat, durch die allgemeine Theilnahme zum Gemeingut erhoben und durch die Aner¬ kennung derjenigen bestätigt wird, denen mit Recht ein si¬ cheres Urtheil zugetraut wird, weil sie entweder das An¬ sehen der Wissenschaft in die Wagschale legen oder durch Charakter, Fülle der Erfahrung, praktischen Sinn und In¬ telligenz auch den Verständigen Vertrauen einflößen. Seit langem ist Niemand so schnell berühmt gewor¬ den, als das Wort Reaktion. Berühmt und mächtig. Es bewegt Heere, schreckt Städte und ganze Provinzen, winkt in der Gestalt eines Engels den Fürsten, die sich während der Aequinoktialstürmen der Märztage auf der Martinswand Popularität verstiegen haben und schleudert sie vielleicht in einen Abgrund, der noch tiefer gähnt, als das — unserer Dinastie so verhängnißvolle Innthal. Ich kann mich durch¬ aus nicht der Meinung des Franzosen Vide Mars anschlie¬ ßen, der neulich schrieb: die Reaktion gleiche den Gespen¬ stern, von denen alle Welt spricht und die Niemand gesehen hat. Ich habe sie gesehen die Reaktion, wer läugnet mir das Licht und die Richtigkeit der Spiegelbilder meiner Au¬ gen? Ich sah sie fahren in bestaubter Kalesche an einem kalten Frühlingsmorgen über die Traunbrücke gegen Salz¬ burg und Ischl; ich sah sie zurückkehren nach Wien auf drei prächtigen schnaubenden Dampfern; ich sah sie fun¬ giren mit Inful und Stab, ich sah sie ihr herablassend¬ lächelndes Köpfchen stecken aus der weißen Halsbinde Pil¬ lersdorffs, ich hörte sie sprechen durch den Mund der Mi¬ nister Latour und Bach und von den Bänken der slavischen Rechten in der Reitschule. Die Reaktion ist kein Gespenst sie lebt, sie hat Fleisch und Bein und — ich selbst ziehe an ihrem Triumphwagen — ich selbst bin ein Re¬ aktionär! Ich habe keinen Grund zu verschweigen in welcher Beziehung auf mich ich dieses Wort acceptire. Ich hege nicht das thörichte Bestreben, den regelmäßigen Fort¬ schritten der Demokratie irgendwie hindernd in den Weg treten zu wollen. „Die Demokratie ist für immer in unse¬ ren Institutionen eingetreten.“ Meine Reaktion ist nicht der kalte Egoismus, der auf seiner geistigen Höhe sich nicht bekümmert um das materielle Elend seiner Brüder. Die Reaktion, zu der ich mich selbst bekenne, ist der feste Ent¬ schluß den eklen Volksschmeichlern oder höchstens Träumern entgegen zu treten, welche den [Menschen vollkommenes Glück und materielle Gleichheit auf Erden versprechen; sie ist der energische Wille, die Kelle und den Hammer zum Neubau unseres Vaterlandes den rohen und ungeschickten Händen jener hochmüthigen Pfuscher zu entreißen, die sich in der Presse, in den Clubbs, auf den Bän¬ ken des Reichstagssaales blähen. Volk ist in den Augen dieser Herren nur die Galle¬ rie in der Kammer, die Zuhörerschaft eines Clubbs, der Haufen auf der Gasse, der den Colporteur umschwärmt, die Plakate begafft, jene schwebende Menschenmasse, „die man nöthigenfalls abzuzählen, die man so zu sagen in die Hand nehmen und schieben kann Mann für Mann.“ Wollt ihr das Volk, seinen Charakter und sein Bedürfniß, die Tiefe seines Geistes und die Tragweite seiner Kraft ken¬ nen lernen, so geht mit ihm erst jahrelang hinter dem Pfluge, setzt euch zu seinen Hochzeit= und Leichenschmäusen, stellt euch mit ihm an die heiße Esse, steigt mit ihm hinauf zur Alpenweide, zum Wechsel der Gemse, feilscht mit ihm in dem Hafen, stecht mit ihm in die trügerische See — dann
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