Vorwärts Nr. 9, 11. Jahrgang, November 1978

ün zwei Uhr früh schon waren die Milchholer bei den ersten Bauernhöfen. In ganz Steyr– Ost gab es nicht eirvnal zehn intakte Lastautos, und die paar waren Holzvergaser. Viele Stunden lang mußte das Milchkommando Treibstoff besorgen, das heißt Holz schneiden und hacken. Trotz dieser ungeheuren Schwierigkeiten war es möglich, die Kleinkinder und Säuglinge sowie die stillenden Mütter mit Milch zu versorgen. Erst Wochen später ge– lang es, Molkereieinrichtungen aufzutreiben und im Brauereigebäude in der Pachergasse entstand eine eigene von den Kommunisten geschaffene Molkerei unter der Leitung von Julius Böhm. Es war eine Sensation, über die sich alle freuten, als zum ersten Mal nach langer Zeit zwei Dekagramm Butter für jedes Kleinkind erzeugt und ausgegeben wer– den konnte. Am 7.Mai 1945 gab es in Steyr-Ost kein Brot, keinen Sack Mehl oder Getreide. Aber auf verschwiegenen Wegen erfuhren die Stadtfunktionäre, daß unweit der Stadt 17 Waqgon Ha– fer lagen. In mühsamer Arbeit wurde der Hafer nach Steyr gebracht, gemahlen und Steyr– Ost hatte Haferbrot, etwas trocken und brüchig,aber es füllte immerhin die hungrigen Mägen. Die Fleischrationen standen in den ersten Tagen der Teilung nur auf dem Papier. Im Garten des Kinderfreundeheimes auf der Ennsleite tummelten sich eingefangene Pferde von der Wehrmacht. Seltsam.die Tiere wurden von Tag zu Tag weniger, dafür aber gab es bei den Fleischhauern auf der Ennsleite und im Wohngebiet Münichholz frisches Fleisch. Ein nicht zu unterschätzendes Problem war das Fehlen von Geld. Die Stadtkasse befand sich im Rathaus und das Rathaus lag in Steyr-West. Die Gemeinde Steyr-Ost hatte keine Mark in ihrer Kasse. Man brauchte aber Geld, um die Arbeiter zu bezahlen, um einkaufen zu können. Zwei Kommunisten übernahmen eine schwere Aufgabe. Franz Draber, eben der To– deszelle entronnen,und sein Freund Hans Strauß schwammen in finsterer Nacht über die Enns. Sie stellten die Verbindung zu den Funktionären von Steyr-lvest her. Sie bekamen Geld und durchschwammen nocheinmal den Fluß, schlichen sich durch die Postenketten und Steyr-Ost hatte für eine Zeitlang Finanzmittel. Später, als die Arbeit des neuen Ge– meinderates schon etwas besser eingespielt war, kamen die Stadtväter auf eine nahel ie– gende Idee: In Steyr-Ost stand ein Finanzamt samt Kasse und einem Hofrat als Vorstand . Kurz entschlossen beschlagnahmte die Stadtgemeinde die Kasse und beförderte den heftig protestierenden Hofrat zum neuen Stadtkassier. Diesmal hatte Steyr-Ost Glück. Wenige Tage später traf ein Schreiben von der Regierung aus Wien ein, das die Handlung der Stadtväter in dieser Frage legalisierte. Die wiedererstandene Meinungsfreiheit verlangte gebieterische Informationsquellen, nach einer Zeitung. Mit Hilfe der Besatzungsmacht schufen die Bewohner von Steyr-Ost ihre ei– gene Zeitung. Nik Riedmüller, ein junger Journalist ,der jahrelang im Konzentrationsla– ger Dachau und Ramingdorf geschmachtet hatte,fungierte als Chefredakteur. Ein weiteres Problem tauchte auf, der Wunsch nach echter, unzensurierter Kunst.Die Wahr– heit, auf der Leinwand und auf der Bühne. In Steyr-Ost gab es kein Theater, kein Kino. In langwierigen Verhandlungen mit den Amerikanern, erreichte Rudolf Binderberger, der Kinobesitzer aus Garsten, daß er seine Vorführgerate über die Enns bringen durfte. 13

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