Vorwärts Nr. 9, 11. Jahrgang, November 1978

S I D ON I E DAS MADCHEN MIT DEN SCHWARZEN AUGEN Es war einmal ein kleines Mädchen - so beginnen viele Märchen,und den kleinen Mädchen in den Märchen geht es meist am Sch luß gut, es kommt ein Prinz und hei– ratet sie . Das kleine Mädchen (Bild), von dem aber hier die Rede ist, kommt in keinem Märchen vor , das hat mitten unter uns gelebt,draußen in Letten. Es war ein liebes,kleines Dirndl,in einer Arbeitersiedlung bei Steyr mit kohlra– benschwarzen Locken und strahlenden schwarzen Augen.Es hatte keine Mutter, aber es fand gute Zieheltern, DIE FAMILIE BREIRATHER Der Ziehvater, ein Steyrer Werksarbei– ter hatte selbst zwei Kinder, aber er liess dem kleinen Mädchen nichts abge– hen, es wuchs in der Familie mit auf. In vielen Ländern ist das ganz natür– lich, das kleine Mädchen wäre grösser geworden , es wäre ein kleines Fräulein geworden , hätte geküßt, geliebt und ge– heiratet , wie es eben seit vielen tau– send Jahren die kleinen Mädchen über– al l machen. Aber unser kleines Mädchen lebte nicht in einem normalen Land , es lebte in der Ostmark , in Hitlerdeutsch– land. Und die Nazis,die Herren im Land, sahen das kleine Mädchen mit scheelen Augen an . Die schwarzen Locken, die schwar– zen Augen, das war nicht II arisch 11 , nicht r einrassig.Denn die Nazis registrierten die Menschen wie Hunde, auf den Stammbaum kam es an. Und unser kleines Mädchen, es hieß Sidonie, hatte keinen Stammbaum, es war ein Zigeunerkind . Da wollten die Nazis die klei– ne Sidonie holen. Der Ziehvater aber.es war der Arbeiter HANS BREIRATHER heute Obmann der KPÖ Sierning , wehrte sich,so gut es ging,da griffen die Na– zis zu einer "nordischen List'! "Wir haben die Mutter des Mädchens gefun– den'' sagten sie ,''die lebt in Hopfgarten in Tirol'1 Da konnte Hans Breirather nicht mehr weiter, der Mutter kann man doch das Kind nic ht entziehen und er mußte die kleine Si– donie der Fürsorgerin mitgeben. In Hopfgar– ten aber wartete auf unser kleines Mädchen keine Mutter, da warteten stinkige, überfüll– te Baracken, ein Lager, in dem die Nazis al– le Zigeuner, die s ie erwischen konnten , sam– melten. Als genügend beisammen waren,schick - te man s ie mit einem Transport nach A U S C HWI T Z , in das Todeslager. Die kleine Sidonie kam nach Auschwitz, sie wurde aber nicht gleich umgebracht, wie viele tausende andere 11 nicht– arische" Mädchen. Sie war gut ernährt und kräftig. Da kam sie in eine Sonderabteilung. Und Verbrecher im Ärztekittel,SS Ärzte,pro– bierten an ihr neue Medikamente aus. Der kleine Körper wurde mit Typhusbazillen ver– seucht, die Kleine wurde schwächer u.schwä– cher und zuletzt, als sie für weitere Ver– suche nicht mehr kräftig genug war, wurde sie vergast. In der Ortschaft Letten bei Steyr erinnern sich heute noch viele Leute an die kleine Sidonie, das Mädchen mit den schwarzen Lok– ken, das immer so freundlich grüßte, das aber nicht leben durfte, weil in Österreich die Nazis an der Macht waren.

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