Vorwärts Nr. 2, 10. Jahrgang, März 1977

Eine Wahrheit, die so anders ist... Prof. Dr. Klaus Jorosch, Gerichtsmediziner, Dozent an der Universität Salzburg, -Leiter der österreichischen Delegation Ich sehe zwei Welten mögen sie miteinander wetteifern Das Interessante dieser Reise war, daß man durch viele Gespräche auf verschiedem: n Ebenen die Struktur der Gesellschaftsordnung in der DDR richtig kennenlernen und sie mit der unseren vergleichen konnte . Völlig unterschiedliche Grundlagen Die westliche Welt ist aufgebaut ciuf Kon - kurrenz . Jeder muß schauen , sich durchzu - setzen, immer in Konkurrenz zum anderen; die politischen Pa r teien und die Wirtschafts - zweige sind Gegner und bekämpfen sich. In d er DDR besteht eine andere, eine ganzheitliche Einstellung . Die W irtschaft wird als Einheit mit der Sozialpolitik aufgefaßt - während bei uns der Staat soziale Regula - tive vorn imm t, das heißt Sozialpflaster verleiht, ohne die Einheit von Produktion und Konsum im richtigen Ausmaß darzustellen. Dazu hat er auch gor nicht die Möglichkeit. Eine Demokratie anderer Art In der DDR bekämpft m0'1 sich nicht, sondern es ist der ganzheitliche Gedanke des tviit ei nande r gegeben, sowoh l in der W ir t - schaft, al s auch in der Bildung oder Sozialpolitik . Das ist - wenn man es hier nicht direkt eileb t hat - primär nicht verständlich . Wir w ij rd en zum Beispiel e rwarten. daß s-i ch die Partei en bekämpfen - ab ~r sie bilden ei nen Block in der Nationalen Front. Weil wir unter Demokratie den Konkurrenzkampf verstehen, en tsteh t im Wes ten das Gefühl, daß in der DDR keine demokrati - sche Ordnung gegeben ist. Die demokratische Ordnun,i ist jedoch hier eine andere. Dadurch, daß der Gemeinschaft sbegri H im Vordergrund steht, hat jeder seine Teilaufgaben zu erfüllen und findet damit seinen Platz in der Ord - nung des Staates. D e r Kontakt zwischen den Mondotströgern und der Bevölkerung entwickelt sich aus persönlichen Vorschlä - gen, aus Direktbeziehungen . Das ist eine ganz andere Form, den Volkswillen zum Durchbruch zu bringen, als dies bei uns geschieht. Denn im Prinzip regieren bei uns häufig 51 Pro zent gegen 49 Prozent - wäh - rend in der DDR durch Aussprachen eine Interessenabwägung im ganzhe itlichen Sinne gegeben wird. Das gilt nicht nu r für di e Wirtschaft, sondern für die ganze G esellschaftsordnung. Mon hat das Gefühl, daß die Menschen mehr zusammenstehen und si ch geg enseitig helfen, weil das wie - derum ollen nützt. Gemeinschaft und Persönlichkeit Dabei besteht der Vorteil, daß die Bildungspo litik der DDR jedem ermöglicht, o l les zu erreichen. Auch der Staat oder die Gese ll schaft als Ganzes trachten, Spitzenleistungen hervorzuheben. Es ist also durchaus nicht so. daß jede Ind ividualität erschlagen wird . Mon kann im Gegenteil sogen: Die Persönlichke it wird hervorgehoben und gefördert. alle rd ings immer in einem Gemei nschaftsbezug und nicht, wie es bei uns ist, nur für sich selbst. Nicht Aushängeschild, sondern Fälschung Im Westen wird negativ gewertet, daß es dort Splittergruppen gibt, die sich als linksradik al bezeichnen, obwohl sie mit einer ech ten Linken überhaupt nichts zu tun ho - ben, die praktisch nur Aggressionen entladen. Bei un s besteht propagandistisch der Trend, diese Personengruppen mit dem System in der DDR zu identifizieren und es damit in Mißkredit zu bringen. Man sogt immer : Seht, das sind die Leut e. die den W eg für die sozialistische G esel lschaft be - reiten wollen . Also mit Bombenwe rfern, Brandlegern und sonstigen Radaubrüd ern, die sich linksradikal gebärden, hat die Gese ll schaft in der DDR überhaupt nichts ge - mein . Ich glaube, gerade das Gegenteil stimmt. Was mir hier am meisten gefallen hat, war die oHen e. sachliche und wirklich sachkundige Aussprache, die man eigent - lich überall gefunden hat. Kriminalitätsvergleich Interessant e Aufschlüsse über das Gesell - schaftssystem kann man auch von der Kri - minalität als Rander scheinung der sozialen Struktur erholten . Damit bin ich mehr oder rnind e r konfronti e rt . Ich habe ein Buch über die Verbrechensen twick lung geschrieben . Da sieht man. daß zum Beispie l die Zahl der Morde in Rel ation zur Bevö lkerungszahl währe nd der ersten Nachkri egsj ahre in BRD und DDR vö llig gleich war. Dann beg innt die Schere: In der BRD ein gigantischer Anstieg, in der DDR ein gigantischer Abfall. Triebverbrechen auf psychopothologischer G, undlage wird man natürlich nie ganz ausschalten können . Aber es ist interessan t, daß mir Ger ich tsmediziner in der DDR gesagt haben : Wir sehen kaum einen Raubmord . Was ist Freiheit? Im West en wird immer gesagt, die DDRBewohner sind unfrei. Nun muß man unterscheiden zwischen mo.ximoler und optimal e r Freiheit. Di e maximale Freiheit ist zugleich die maximale Unfreiheit. Wenn jeder im Ve keh r so fahren kann, wie er will. don „ kann man nicht mehr fahren . Die Fre iheit, Suchtgift e inzunehmen , führt letzten Endes zur persönlichen Unfreiheit, weil der Süchtige nicht mehr loskommt von seiner Sucht. Wenn ich jedem olles erlaube und keine Se lbstbeschränkung habe, dann führt das dazu , daß jeder Mensch vor den Fenstern G i tter braucht, weil die, die hinter Gitter gehören , f rei herumlaufen . Es gibt also nur die optimale Freiheit, das heiß t Selbstbeschränkung ist notwen - dig, damit jeder die eigene Persönlichkeit möglichst entfalten kann, ober schon in ei nem gemeinschoftsbezogenem Sinn. Gibt es in der DDR optimale Freiheit? Natürlich kann man darüber streiten, wo die Grenze gezogen wird. Mir erscheint hier noch eine größere Freiheit der Bewegung, der Mög li chkeiten des Reisens , erstrebenswert. Das hängt natürlich mit bestimmter Vorausse t zungen zusammen. Wenn sie gt geben sind, wird man sicher den Reisever - kehr wei ter fördern. Das ist ja in Entwick - lung. Aber die wichtigsten Voraussetzungen opt imal er Freihei t sind meiner Meinung noch in der DDR erfüllt. Die optimale Freiheit erfordert, daß ich auch eine gewis se Sicherheit habe . Denn ich kann mich nur optimal frei als Persönl ichkeit ve rwirklich en, wenn ich nicht unent - wegt in An gst und Furcht lebe. Persönlich sage ich, daß die Politik drei Schichten einnehmen muß : Die e rste Schicht ist, die wirtschaftlichen Vo,aussetzungen zu schoHen, damit - zwei - tes Stadium - der Mensch nach den Gesetzen der Hygiene leben kann. Wobei ich da,unter all es verst ehe, auch geistige Gesundheit, auch Umwe lt schutz, auch betrieb - lichen Schutz. Die Weltgesundheitsorganisation hat gesagt: Gesundheit ist nicht nur das Freisein von Krankheit, sondern das vollkommene körperliche, geistige und soziale W ohlbefinden. Die dritte Stufe ist dann , daß jeder seine Persönlichkeit kulture ll frei entfalten kann - wobei jeder seine Ouolitäten hat, und das ist gut so. Ich glaube, daß diese drei Ziele in Etap-

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