Vorwärts Nr. 1, 10. Jahrgang, Jänner 1977

Eine Wahrheit, Prof. Dr. Klaus Jorosch, Gerichtsmediziner, Dozent an der Universität Salzburg, Leiter der österreichischen Delegation Ich sehe zwei Welten mögen sie miteinander wetteifern Da s Interessante dieser Reise war, daß man durch viele Gespräche auf verschieden1:n Ebenen di e Struktur der Gesellschafts - ordnung in der DDR richt ig kennenlernen und sie mit der unseren vergleichen konnte. Völlig unterschiedliche Grundlagen Die westliche W e lt ist aufgebaut auf Konkurrenz . Jeder muß schauen, sich durchzusetzen, immer in Konkurrenz zum anderen; lie politischen Parteien und die Wirtschaftszweige sind Gegner und bekämpf en sich . In der DDR besteht eine andere, eine ganzheitliche Einstellung. Die Wirtschaft wird als Einhei t mit der Sozialpo l i t ik aufgefaßt - während bei uns der Staat soziale Regula - ti ve vornimmt. das heißt Sozialpflaster ver - leih t, ohne die Einheit von Produktion und Kon.sum im richtigen Ausn1o ß dorzu~tellen. Dazu hat er auch gor nicht die Möglichkeit. Eine Demokratie anderer Art In d er DDR bekämpft mOll sich nicht, son - dern es ist d e r ganzhei tlich e Gedanke des Mitei nander gegeben, sowohl in der Wi r t - schaft, als auch in der Bildung oder Sozialpolitik . Das ist - wenn man es hier nicht direk t e rlebt hat - primär nicht verständlich . Wir würd en zum Beispiel erwar ten , daß si ch die Parteien bekämpfen - ab '.? r sie bilden ei nen Block in der Nati ona len Front. We il wir unter Demok ratie den Konkurrenzkampf verstehen, en tsteht im W es ten das Gefühl, daß in der DDR keine demokrati - sche Ordnung gegeben ist. Die demokratische Ordnung ist j edoch hier eine andere. Dadurch. daß de r G emeinschoftsbegriH im Vordergrund steht , die so anders ist... hol jeder seine Teilaufgaben zu erfüllen und findet damit sei nen Platz in der Ord - nung des Staates. Der Kontakt zwischen den Mandatsträgern und der Bevölkerung entwickelt sich aus persönlichen Vorschlä - gen, aus Direktbez iehungen . Das ist eine ganz andere Form, den Volkswillen zum Durchbruch zu bringen, als dies be i uns geschieht. Denn im Prinzip regieren bei uns häufig 51 Prozent gegen 49 Prozent - während in der DDR durch Aussprachen eine Interessenabwägung im ganzheitlichen Sinne gegeben wird. Das gilt nicht nur für die W i rt schaft, sondern für die ganze Ge - sellschaftsordnung . Mon hat das Gefühl, daß die M enschen mehr zusammenstehen und sich gegenseitig helfen, weil das wiederum ollen nützt. Gemeinschaft und Persönlichkeit Dabei besteht der Vortei l , daß die Bil - dungspolitik der DDR jedem ermöglicht, oll es zu erreichen. Auch der Staat oder die Gesellschaft als Ganzes trachten, Spitzenleistungen hervorzuheben . Es ist also durchaus nicht so, daß jede Individualität erschlagen wird . Mon kann im Gegenteil sogen : Die Persön lichkeit wird hervorgehoben und gefördert, allerdings immer in einem Gemeinschaftsbezug und nicht, wie es bei uns i st, nur für sich selbst. Nicht Aushängeschild, sondern Fälschung Im Westen wird negativ gewertet, daß es dort Splittergruppen gibt, die sich als linksradikal bezeichnen , obwohl sie mit einer echten Link en überhaupt nichts zu tun haben, die prakti sch nur Aggressionen entladen . Bei uns besteht propagandistisch der Tr end, diese Personengruppen mit dem Syst em in der DDR zu identifizieren und es damit i n Mißkredit zu b ringen. Man sogt immer: Seht, das sind die Leute, die den Weg für die sozialistische Gesellschaft bereiten wollen . Al so mit Bombenwerfern, Brandlegern und sonstigen Rnrloubriidern. die sich linksrad ik al gebärden, hat die Ge - se llschaft in der DDR überhaupt nichts gemein . Ich glaube, gerade das Gegenteil stimmt. Was mir hier am me isten gefallen hat, war die oHene, sachliche und wirklich sachkundige Aus sp rache, die man eigentl ich überall gefunden hat. Kriminalitätsvergleich Interessant e Auf schlüsse über das Gesellschaft ssys tem kann man auch von d e r Kriminalität al s Randerscheinung der sozialen Struktur erholten . Damit bin ich mehr oder minder konfrontiert. Ich habe ein Buch über di e Verbrechensentwicklung geschrieben . Da sieht man, daß zum Be ispiel die Zahl der Morde in Relation zur Bevölkerungszahl während der ersten Nachkriegsjahre in BRD und DDR völlig gleich war. Dann beg innt d ie Schere: In der BRD ei n gigantischer Anstieg, in der DDR ei n gigantischer Abfall. Triebverbre chen auf p sychopothologi - scher G, undlage wird man natürlich ni e ganz ausschalten können . Aber es ist interessant, daß mir Gerichtsmediziner in der DDR gesagt haben: Wir sehen kaum einen Raubmord . Was ist Freiheit? Im Westen wird immer gesagt, d ie DDRBewohner sind unfrei. Nun muß man unte rsche iden zwischen mo.ximaler und optimal er Freiheit. Di e maximale Fre ihei t ist zugl eich die maximale Unfreiheit. Wenn jeder im Verkehr so fahren kann, wie er will, dann kann man nicht mehr fahren . Die Freiheit, Suchtg ift einzunehmen, führt letzten Endes zur persönlichen Unfreiheit, weil der Süchtige nicht mehr loskommt von seiner Sucht. W enn ich jedem olles erlaube und keine Selbstbeschränkung habe, dann führt das dazu , daß jeder Mensch vor den Fenstern Gitter braucht, weil die , die hinter G it ter gehören, frei herumlaufen . Es gibt al so nur die optimale Freiheit, das heißt Se lbstbeschränkung ist notwendig , damit jeder die eigene Persönlichkeit möglichst entfalten kann , ober schon in ei nem gemeinschoftsbezogenem Sinn . Gibt es in der DDR optimale Freiheit? Natürlich kann man darüber streiten, wo die Gre nze gezogen wird . Mir erscheint hier noch eine größe re Freiheit der Bewegung , der Mög lichkeiten d es Reisens, e rstrebens - wert. Das hängt natürlich mit bestimmten Vo rausse tzung en zusammen. Wenn sie gegeben sind, wird man sicher den Reisever - kehr weiter fördern. Dos ist ja in Entwicklung . Aber die wichti gsten Voraussetzungen optimaler Frei he it sind mei ner Meinung noch in der DDR erfüllt. D ie optimale Freihei t erfordert, daß ich auch eine gewisse Siche rheit habe . Denn ich kann mich nur optimal frei als Persön - l ichkeit verwirklichen, wenn ich nicht unent - wegt in Ang st und Furcht lebe. Pe rsönlich sage ich, daß die Politik drei Schichten einnehmen muß : Die erste Schi cht ist, die wirtschaftlichen Vorau ssetzungen zu schatten, damit - zweites Stadium - der Mensch noch den Gesetzen de r Hygi ene leben kann . Wobei ich darunter all es verstehe, auch geistige Gesundheit, auch Umweltschutz, auch betrieblich en Schutz . Die Weltgesundheitsorganisat ion hat gesagt : Gesundheit ist n icht nur das Frei se in von Krankheit, sondern das vollkommene körperliche, geistige und so - ziale Wohlbefinden . Die dritte Stufe ist dann, daß jeder seine Persönlichkeit kulturell frei entfalten kann - wobei jeder seine Qualitäten hat , und das ist gut so. Ich glaube, daß diese drei Ziel e in Etop -

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