Vorwärts Nr. 3, 8. Jahrgang, Mai 1975

S I DON I E DAS MADCHEN MIT DEN SCHWARZEN AUGEN Es war einmal ein kleines Mädchen - so beginnen viele Märchen,und den kleinen Mädchen in den Märchen geht es meist am Schluß gut, es kommt ein Prinz und heiratet sie. Das kleine Mädchen (Bild), von dem aber hier die Rede ist, kommt in keinem Märchen vor, das hat mitten unter uns gelebt,draußen in Letten. Es war ein liebes,kleines Dirndl,in einer Arbeitersiedlung bei Steyr mit kohlrabenschwarzen Locken und strahlenden schwarzen Augen.Es hatte keine Mutter, aber es fand gute Zieheltern, DIE FAMILIE BREIRATHER Der Ziehvater, ein SteyrerWerksarbeiter hatte selbst zwei Kinder, aber er liess dem kleinen Mädchen nichts abgehen, es wuchs in der Familie mit auf. In vielen Ländern ist das ganz natürlich, das kleine Mädchen wäre grösser geworden, es wäre ein kleines Fräulein geworden, hätte geküßt, geliebtund geheiratet, wie es eben seit vielen tausend Jahren die kleinen Mädchen überall machen. Aber unser kleinesMädchen lebte nicht in einem normalen Land , es lebte in der Ostmark,in Hitlerdeutschland. Und die Nazis,die Herren im Land, sahen das kleine Mädchen mit scheelen Augen an. Die schwarzen Locken, die schwarzen Augen, das war nicht" arisch", nicht reinrassig.Denn die Nazis registrierten die Menschen wie Hunde, auf den Stammbaum kam es an. Und unser kleines Mädchen, es hieß Sidonie, hatte keinen Stammbaum, es war ein Zigeunerkind. Da wollten die Nazis die kleine Sidonie holen. Der Ziehvater aber,es war der Arbeiter HANS BREIRATHER heute Obmann der KPÖ Sierning, wehrte sich,so gut es ging,da griffen die Nazis zu einer "nordischen List'! "Wir haben die Mutter des Mädchens gefunden" sagten sie,"die lebt in Hopfgarten in Tirol': Da konnte Hans Breirather nicht mehr weiter, der Mutter kann man doch das Kind nicht entziehen und er mußte die kleine Sidonie der Fürsorgerin mitgeben. In Hopfgarten aber wartete auf unser kleines Mädchen keine Mutter, da warteten stinkige, überfüllte Baracken, ein Lager, in dem die Nazis alle Zigeuner, die sie erwischen konnten, sammelten. Als genügend beisammen waren,schick - te man sie mit einem Transport nach AU S C HWI T Z , in das Todeslager. Die kleine Sidonie kam nach Auschwitz, sie wurde aber nicht gleich umgebracht, wie viele tausende andere"nichtarische" Mädchen. Sie war gut ernährt und kräftig. Da kam sie in eineSonderabteilung. Und Verbrecher im Ärztekittel,SS Ärzte,probierten an ihr neue Medikamente aus. Der kleine Körper wurde mit Typhusbazillen verseucht, die Kleine wurde schwächer u.schwächer und zuletzt, als sie für weitere Versuche nicht mehr kräftig genug war, wurde sie vergast. In der Ortschaft Letten bei Steyr erinnern sich heute noch viele Leute an die kleine Sidonie, das Mädchen mit den schwarzen Lokken, das immer so freundlich grüßte, das aber nicht leben durfte, weil in Österreich die Nazis an der Macht waren.

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