Veröffentlichungen des Kulturamtes, Heft Dezember 1950

mittelalterlichen Kirchentonartcn gründe». Was aber unsere Aufmerksamkeit besonders fesselt, das sind die Ornamente selbst. In ihnen klingt die in germanischer Zeit so hochentwickelte polyphone Linienmusik mit iiberraschendem Wohllaut wieder auf. Denn die Zeit ist da und die Gelegenheit, uraltes Erbe neuerlich anzutreten. Schon bei den „Schönen Madonnen" hatte die „Ununterbvechlichkeit der Linie" den Körper als plastischen Kern wie Musik überströmt. Jetzt aber dars sie allein das Wort führen, und sie tut es mit jenem unbezwingbaren Drängen der Spätgotik aus klarer Ueberschaubarkeit in das Grenzensprengende und Flutende malerischer Gesinnung. Ja, dieses Streben selbst ist an den sechs Ornamenten des Gitters ablesbar! Während das oberste links noch dem Quadrat verpflichtet bleibt — und zwar als dessen beseelte Füllung — in dieser Dienstbarkeit sich aber noch für keine Richtung entscheidet, versucht sich schon das ihm benachbarte Ornament an einer Lockerung des festen Gefüges. Durch die entschiedene Einführung des Rahmenmotives wird aber zugleich die Quadratmitte betont und die Lockerung des Maßwerkes wieder eingeschränkt. Erst im dritten, zu dieser Gruppe gehörenden Ornament (links unten) ist die Auslösung so weit getrieben, daß die Grenzlinien nur noch als Andeutung auftreten. Zwar wird das Grundmotiv des ersten Ornamentes unverändert übernommen, weil es aber gleichzeitig Bestandteil eines neuen Maßmerkgebildes ist und dieses die Abgrenzung nach allen Seiten hin überspült, geht jenes Grundmotiv i» der neuen Formung unter und nur das aufmerksame Auge vermag — einigermaßen mühsam —• es aus seinem Verbände zu lösen. Kennzeichnend für den Willen, das Ornament als Ausschnitt aus einer endlosen Reihe aufzufassen, ist übrigens auch der Unistand, daß das Verhältnis der Ornamentfeldseiten (2:3) eine vollständige Ausfüllung mit Quadraten verhindert, so daß die Ornamente in der Längenausdehnung willkürlich beschnitten erscheinen. Die Ornamente der Mittelfelder und jenes rechts unten gehören einer zweiten Formengruppe an, welche vom Quadrat Abstand nimmt und durch das Jneinanderlegen des Grundmotioes schon im Ausgangsornament (rechtes Mittelfeld) sozusagen ein Liniensystem höherer Ordnung einführt. Die Senkrechte wird jetzt betont und dadurch das bisher richtungslose Strahlen in einen einheitlichen Bewegungszug nach oben umgewandelt. Das Vierblattmotiv erscheint unverändert in allen drei Ornamenten, die als Steigerungsstufen vom Einfachen zum Verwickelten anzusprechen sind. Wer das alles liebevoll beachtet, wer zudem Sinn hat für die Feinheit und Sorgfalt der technischen Ausführung (eine vergoldete Stahl- platte in Kerbschnittechnik und eine in Stanzarbeit liegen übereinander), dem werden solche Leistungen des mittelalterlichen Kunsthandwerkes erst eine Ahnung von der Kulturhöhe jener Zeiten vermitteln. Und solche einzigartige Werke sind bisher höchstens nur flüchtig erwähnt worden! 10

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